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Brandenburg: "Nauener Tafel": Wärmestube für das Herz

Die junge alleinerziehende Mutter schämt sich. Sie will nicht darüber reden, warum sie gerade kostenlos Lebensmittel bei der "Nauener Tafel" abholt.

Die junge alleinerziehende Mutter schämt sich. Sie will nicht darüber reden, warum sie gerade kostenlos Lebensmittel bei der "Nauener Tafel" abholt. Auch 15 andere Gäste bleiben erst einmal wortkarg. Die meisten von ihnen besuchen beinahe täglich die Nauener Ritterstraße 3.

Der 67 Jahre alte Kurt Knispel ist gesprächiger: "Mit der Wohnzimmerwand kann man sich nicht unterhalten, und hier gibt es Menschen, die sich um uns kümmern." Am innigsten in sein Herz geschlossen hat er Marina Sult. Die Vorsitzende des Vereins Nauener Tafel nennt er wie andere manchmal liebevoll "Mutter Theresa". Knispel hat herausbekommen, dass Marina Sult von ihren Söhnen damit im Scherz aufgezogen wird. "Man muss schon eine verständnisvolle Familie haben, wenn man sich selbst so engagieren will", erzählt die Frau, die ehrenamtlich mit ihrem eigenen Auto die Läden, Bäckereien und Lokale abklappert, um Speisen für die Tafel einzusammeln. Aus Spendengeld sind jetzt 3000 Mark zusammengekommen, um der Post AG einen alten Golf abkaufen zu können.

Ansturm kaum zu beherrschen

Marina Sult hofft, bald wieder in eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme vermittelt werden zu können. Fünf Jahre lang war sie in einer so genannten Strukturanpassungsmaßnahme (SAM) als Chefin in der benachbarten Suppenküche im selben Gebäude tätig, bevor sie gemeinsam mit sechs Mitstreitern am 15. Dezember des Vorjahres den Tafel-Verein gründete. "Immer wieder hatte ich Zweifel, ob in einer Stadt wie Nauen mit gut 10 000 Einwohnern überhaupt der Bedarf vorhanden ist." Angefangen hat der Verein ohne Raum und ohne Technik. Vorhanden waren das Engagement der Sieben und ein paar Kontakte zur "Berliner Tafel". Die Gründung eines vergleichbaren Vereins in Potsdam hat den Ausschlag gegeben.

Heute beherrschen die Ehrenamtlichen den Ansturm kaum noch - nicht nur aus dem ehemaligen Ackerbürgerstädtchen Nauen, auch aus dem Umland, aus Ketzin, aus Falkensee, selbst aus dem 35 Kilometer entfernten Friesack kommt die "Kundschaft". Jeden Dienstag und Donnerstag stehen mindestens 30 Bedürftige vor der Tür. Wenn es kälter wird, steigt deren Zahl schnell auf 60 an den Öffnungstagen.

Supermärkte unterstützen die Aktion

Acht bis zehn Freiwillige fahren immer zu den Einzelhandelsgeschäften und Supermärkten. Selbst bis zum Havelpark zwischen Spandau und Dallgow-Döberitz oder bis zum Real-Markt in Falkensee reicht der Aktionsradius der Truppe. Real-Chef Manfred Jahn gibt gerne ab: "Bevor unsere Ware in der Bio-Tonne landet, sehen wir es lieber, dass noch jemand etwas davon hat. Entgegen mancher Vorurteile sind die Produkte nicht schlecht, nur weil deren Mindesthaltbarkeitsdatum gerade abgelaufen ist. Wir dürfen die Ware nicht mehr verkaufen, dennoch ist sie noch vollwertig." In Falkensees größtem Supermarkt bleibt beinahe täglich eine Menge übrig.

Und dazu helfen den Nauener Lebensmittelsammlern manchmal auch die Tipps der Berliner Kollegen: Wenn sie beispielsweise eine überreichliche Lieferung "Hohes C" von einer Firma angeboten bekommen, telefonieren sie nach Nauen.

Viele Besucher der Nauener Tafel haben Hemmungen, sich als Bedürftige erkennen zu geben. Unter denen, die kommen, finden sich ganz verschiedene Menschen wieder: Da steht der Handwerksmeister, dem seit Monaten seine Arbeiten von den Kunden nicht bezahlt wurden, neben Sozialhilfeempfängern, Obdachlosen, Alkoholikern, Kranken oder einfach Menschen, die zum Teil aus eigener Kraft ihren Tagesablauf nicht mehr strukturieren können oder den Gang zum Sozialamt scheuen. "Wir sind hier eine Ergänzung zum Sozialamt. Manchem Gast sagen wir schon, dass er mal wieder duschen und seine Hose waschen könnte." Keine Legende ist, dass Marina Sult, manchem Mann schon elf Mark aus der Kasse in die Hand gedrückt und diesen zum Friseur geschickt hat.

Wenn Knispels Hose vor Schmutz steht, händigt Sult ihm eine aus der benachbarten Kleiderkammer aus und nimmt seine zum Waschen mit nach Hause. Zudem kennt die Vereinschefin sogar die persönlichen Vorlieben und Eigenheiten ihrer Gäste: "Der Kurt Knispel ist zwar ein ganz anspruchsloser Mensch, aber mit Nudeln kann man ihn jagen." Der ehemalige Traktorist, der seit 1992 ohne seine geliebte Frau auskommen muss, weiß den Service zu schätzen: "Wenn Frau Sult im Urlaub ist, leide ich die ganze Zeit."

500 Sozialhilfe-Empfänger

Die Vereinschefin kennt aus dem täglichen Erleben eine Vielzahl Menschen mit verschiedensten Problemen. Eine Mutter mehrerer Kinder war vier Monate lang einfach nicht zum Amt gegangen. Der Schuldenberg, unter anderem wegen nicht gezahlter Miete, war zu groß geworden. Auch die 38 Jahre alte Frau, die ihren Namen nicht sagen wollte, erzählt plötzlich: Seit Jahren ist sie arbeitslos, mehr als 40 Bewerbungen hat die Reinigungskraft abgeschickt - erfolglos. "Ohne diese Hilfe hier, würde ich mit 400 Mark im Monat für mich und meine Tochter nicht auskommen."

Allein in Nauen gibt es derzeit knapp 500 Personen, die von Sozialhilfe leben. Die meisten von ihnen seien auf dem Arbeitsmarkt nur schwer vermittelbar, so der Sozialamtsleiter Reinhard Fischer. Manuela Swirlplies, Gleichstellungsbeauftragte und Mitarbeiterin des Sozialamtes glaubt, dass "die Sicherung durch das soziale Netz noch ganz gut funktioniere. Es gibt aber bedauerliche Einzelfälle von Menschen, die durch die Maschen rutschen".

Dorothea Flechsig

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