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Kleines Geschäft am Rande. Zwei Investoren checken die Kurse am Smartphone in einem Lokal in Shenyang.

© Reuters

Internet in China: Herrschaftssystem Internet?

Das Netz zwischen Zensur und Kommerz: Die chinesischen Nutzer begegnen offiziellen Deutungsversuchen mit Misstrauen.

Widerstände, nicht Grenzen überwinden will die chinesische Führung mit Hilfe des Internets. Ministerpräsident Li Keqiang nennt es den „Internet Plus“-Plan: Mit Hilfe von gezieltem Breitbandausbau, Cloud Computing und Big Data will Peking die Industrieproduktion und den Dienstleistungssektor modernisieren. Mit eigenen Hightechprodukten und Standards versucht China, sich von der US-amerikanischen IT-Vorherrschaft unabhängig zu machen. Um die eigene Industrie zu schützen, drängt Peking ausländische IT-Unternehmer sukzessive aus dem Markt oder zwingt diese zur Offenlegung von Quellcodes.

Mit „Plus“ meint die chinesische Regierung jedoch noch mehr: Sie will den Informationsfluss nicht nur kontrollieren, sondern auch selbst deuten. Peking zensiert unliebsame Inhalte und erfindet neue Wörter für unbequeme Realitäten. „Die Neue Normalität“, von der momentan stets die Rede ist, meint eigentlich „schwächelnde Wirtschaft“. China ist auf dem Weg zu einer autoritären Technokratie. Viele in Deutschland überrascht und schockiert dies gleichermaßen. Dabei folgt die KP-Führung im Umgang mit dem Internet nur konsequent den eigenen Interessen.

„Die Große Mauer überwinden, um jeden Winkel der Welt zu erreichen“ – so lautete der Inhalt des ersten aus China gesendeten Emails im Jahr 1987. In der Anfangszeit war für China das World Wide Web das Tor zum westlichen Wohlstand. Ende der 1990er Jahre beförderten Chinas heutige IT-Riesen wie Sina, Sohu oder Netease die Kommerzialisierung der Medien- und Unterhaltungsbranche. Diese Dynamik stützte den Pakt der Regierung mit ihrer städtischen Mittelschicht, den sie nach der Niederschlagung der Protestbewegung 1989 geschlossen hatte: „Ihr vergnügt Euch und werdet reich, dafür verlangt ihr keine politische Mitbestimmung.“

Nach den Olympischen Spielen 2008 kippt endgültig die Stimmung

Doch Anfang der 2000er Jahre entdeckten Chinas schnell wachsende Gruppe von Netizens die Macht des Internets für sich. Der Schock über die von Peking lange vertuschte Lungenkrankheit SARS saß tief. Rechtsanwälte, Journalisten, Privatunternehmer und Bürgerrechtler nutzten Diskussionsforen und Blogs, um Missstände anzuprangern und Verbesserungsvorschläge zu artikulieren – zunächst mit Unterstützung von Teilen der politischen Eliten.

Wie gefährlich solch ein freies Internet für die eigene Machtausübung sein kann, wurde Peking nach den Olympischen Spielen 2008 jedoch immer klarer. Mit Hilfe sozialer Medien können Netizens Informationen, vor allen Dingen Bilder, von Protesten und Skandalen in Windeseile im ganzen Land (und der ganzen Welt) verbreiten.

Populäre Mikroblogger mit Millionen von Anhängern liefern eigene Deutungen von Ereignissen, die viele Netizens mehr überzeugen als die offizielle Propaganda. Engagierte Bürger generieren über soziale Medien Aufmerksamkeit für Opfer von Machtmissbrauch, organisieren kollektive Interessen und initiieren Protest – oder Unterstützungsaktionen in der realen Welt.

Pekings Internetherrschaft birgt Risiken

Um seine Macht zu retten, muss die chinesische Regierung das Internet zunehmend in die Schranken weisen. So verhaftete die KP-Führung unter Xi Jinping zentrale Meinungsführer, stellte die Verbreitung nicht näher definierter „Online-Gerüchte“ unter Strafe und forcierte die so genannte „Klarnamensregistrierung“. Die KP-Führung hat bei der Entwicklung von Überwachungs- und Zensurtechnologie beängstigende Fortschritte gemacht. Sollte der „Internet Plus“-Plan, insbesondere eine systematische Big-Data-Erfassung und -Analyse, gelingen, so dürfte die aktuelle politische Verhärtung in China noch weiter zunehmen.

Doch Pekings Internetherrschaft birgt Risiken: Zwar hat die chinesische Regierung die Kontrolle über die technische Seite des Netzes enorm verbessert. Sie vertritt ihre Vorstellungen und Standards im Bereich IT zunehmend selbstbewusster auf internationalen Foren und findet vereinzelnd Verbündete.

Allerdings hat sie die technologische Plattform Internet bis dato kaum mit überzeugenden, eigenen Inhalten füllen können. PR-Versuche wie jüngst die Instrumentalisierung der Online-Umweltdokumentation „Unter der Glocke“ der ehemaligen CCTV-Journalistin Chai Jing scheitern: Denn Chinas Internetnutzer begegnen offiziellen Deutungsversuchen mit Misstrauen und Zynismus. Dagegen bleiben die vermeintlichen Herrscher des Internets vorerst machtlos.
Die Autorin ist Leiterin des Forschungsbereichs Politik, Gesellschaft, Medien am MERICS. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die digitale Gesellschaft, Religionspolitik sowie sozialer Wandel und soziale Konflikte bzw. Proteste in China.

Kristin Shi-Kupfer

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