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Die Idee zu den Rikscha-Fahrten für Senioren kam ursprünglich aus Dänemark und verbreitete sich über die skandinavischen Länder bis nach Übersee.

© Laura Stresing

Initiative "Radeln ohne Alter" in Berlin: Ein Recht auf Wind in den Haaren

In Berlin-Schöneberg fahren Freiwillige Senioren in der Rikscha spazieren. Die Idee kommt aus Dänemark, die Wirkung ist erstaunlich.

Das Einsteigen ist das Schwierigste. Mit einem sorgenvollen „Oh-oh...“ lässt sich Michaela Thiede, die für eine Pflegeheim-Bewohnerin deutlich zu jung aussieht, zuerst in die Arme der Sozialarbeiterin und dann in die Kissen der Rikscha sinken. Seit dem Schlaganfall gehorcht das rechte Bein nicht mehr. Außerdem ist es ihr erstes Mal in dem Gefährt und die Scheu steht ihr ins Gesicht geschrieben.

Wenige Minuten später ist der ängstliche Gesichtsausdruck einem Lächeln gewichen. Die Hand, die eben noch eine Rollstuhllehne umklammerte, winkt den Zuschauenden zaghaft zu. „Da, es gefällt ihr!“, triumphiert Sozialarbeiterin Frauke Mönnich, während die Rikscha zu einer weiteren Runde auf dem verlassenen Supermarkt-Parkplatz beschleunigt.

Eine Initiative nimmt Schwung auf

Es ist Sonntag und die Initiative „Radeln ohne Alter“ hat zur Einführungsstunde für Neulinge eingeladen. Sechs Freiwillige und fünf Bewohnerinnen der Seniorenresidenz sind gekommen, um sich mit der Rikscha – und miteinander – vertraut zu machen. „Wenn sie erst mal drin sitzen, habe ich es noch nie erlebt, dass sie es nicht super finden“, sagt der Rikscha-Pilot Calle Overweg.

Seit zwei Monaten kommt er schon regelmäßig in das Seniorenzentrum in der Schöneberger Hauptstraße und fährt die Bewohner mit der Rikscha spazieren. Die Idee hat der Schöneberger aus Dänemark importiert, wo das Konzept schon seit 2012 große Erfolge feiert. „Cycling uden alder“ gibt es dort in Altersheimen in über 100 Gemeinden über das ganze Land verteilt. Die Initiative fand erst Nachahmer in den benachbarten skandinavischen Ländern, dann sogar in Übersee.

Der Einstieg in die Rikscha ist das Schwierigste. Danach haben alle Senioren ein Lächeln im Gesicht. Nebenbei erzählen viele ihre Lebensgeschichte - oder genießen ganz einfach den Fahrtwind.
Der Einstieg in die Rikscha ist das Schwierigste. Danach haben alle Senioren ein Lächeln im Gesicht. Nebenbei erzählen viele ihre Lebensgeschichte - oder genießen ganz einfach den Fahrtwind.

© Laura Stresing

Calle Overweg hörte davon zum ersten Mal in einem TedX-Talk – also einem Online-Vortrag – des Erfinders Ole Kassow. Der Dokumentarfilmer und überzeugte Cyclist war sofort begeistert und beschloss, auch eine Gruppe in seinem Kiez zu gründen. Auf der Suche nach einer geeigneten Rikscha lernte er bald darauf Gaya Schütze kennen. Wie es der Zufall wollte, hat die Berliner Radhändlerin ihren eigenen demenzkranken Vater bis zu dessen Tod jahrelang in einer Rikscha durch Berlin kutschiert. Es brauchte nicht viel Überzeugungsarbeit, um sie zur Verbündeten zu machen. Seither steht eben diese Rikscha als Leihgabe in dem Schöneberger Pflegeheim. Sie soll Overwegs Initiative Schwung verleihen – solange, bis sie sozusagen auf eigenen Rädern steht und sich eine Flotte leisten kann.

Freiwillige Radler gesucht

Im Gegensatz zu den Fahrradtaxen, wie man sie oft am Brandenburger Tor oder Potsdamer Platz sieht, tragen die Senioren-Rikschas ihre Kabine vorne. So kann der Blick ungehindert in alle Richtungen schweifen. Der Fahrgast gleitet dicht über dem Boden dahin. So versetzt die Rikscha die Passagiere in einen sprichwörtlichen Schwebezustand. Durchschnittlich zwölf Stundenkilometer erstrampelt Overweg mit der Rad-Kutsche. „Das reicht schon für ein bisschen Fahrtwind.“ Die Wirkung sei jedenfalls erstaunlich: „Da kommt von ganz tief unten eine Freude auf“, beobachtet Overweg bei seinen Fahrgästen.

Auch Wolfgang Endler, der Lebensgefährte von Gaya Schütze, erinnert sich lebhaft an die Ausflüge mit seinem „Schwiegervater“. Herrschaftlich habe der alte Mann in der Rikscha gethront – und Berlin habe ihm zu Füßen gelegen. „Lächeln einsammeln, das war die Parole“, so Endler. Aber auch aus medizinischer Sicht mache die Radtour für Senioren und Demenzkranke Sinn, glaubt Endler. „Da werden innerlich die Landschaften neu verknüpft.“ Nur leider seien Ausflüge selbst in den besten Pflegeeinrichtungen eine seltene Ausnahme. Genau wie Overweg hofft Endler deshalb, dass sich viele Freiwillige finden werden, die das Konzept auch in die anderen Stadtteile Berlins tragen. „Der Bedarf ist sicher überall da“, sagt Overweg.

Da kommt Freude auf: Ob Ausflug ins Lieblingslokal, Besuch bei alten Bekannten oder Rundtour durchs Grüne - mit der Rikscha werden die älteren Menschen wieder mobil und können die frische Luft genießen.
Da kommt Freude auf: Ob Ausflug ins Lieblingslokal, Besuch bei alten Bekannten oder Rundtour durchs Grüne - mit der Rikscha werden die älteren Menschen wieder mobil und können die frische Luft genießen.

© Laura Stresing

Dafür müssen aber zuerst die Räder her. Die Rikschas mit dem auffälligen roten Wetterschutz werden exklusiv für die „Radeln ohne Alter“-Initiativen produziert. Der dänische Hersteller kommt mit der Produktion kaum nach, so schnell haben die Fahrrad-Aktivisten auf der ganzen Welt neue Ableger gegründet. Derzeit gebe es eine Wartezeit von mindestens vier Monaten, sagt Overweg. Immerhin gibt ihm das die Zeit, das nötige Kleingeld einzusammeln. Es werden Sponsoren gesucht, deren Logo auf den neu angeschafften Rikschas prangen wird. Jedoch: „Dieses Jahr wird es mit der Flotten-Erweiterung nichts mehr“, sagt Overweg.

Zumindest in Schöneberg können Freiwillige trotzdem jetzt schon in das Projekt einsteigen. Die Bewohner des dortigen Pflegeheimes wird es freuen, gerade jetzt im Sommer. Denn bisher steht die Rikscha immer noch die meiste Zeit auf ihrem Parkplatz im sechsten Stock. Das Dreirad passt zum Glück durch alle Gänge und in den Fahrstuhl. So kann der Bewohner direkt von seinem Zimmer abgeholt werden. Bei der ersten Ausfahrt will Overweg die Neulinge begleiten, um das Eis zu brechen. „Mich kennen die Bewohner mittlerweile.“

Ein tröstlicher Gedanke

Gut eineinhalb Stunden kutschiert er seine Fahrgäste für gewöhnlich herum. Der Volkspark Schöneberg mit seiner Eisdiele ist beliebt. Manche Herrschaften haben aber auch besondere Wünsche. Mit einer Dame fuhr Overweg etwa zum Griechen nach Friedenau. „Sie wollte ein Glas Wein trinken.“ Eine andere wollte ihre frühere Wohnung am Ku'damm wiedersehen. Manche erzählen auf dem Weg ihre gesamte Lebensgeschichte. Andere erfreuen sich nur am Ausblick. Jedenfalls kommt Overweg von jedem Ausflug mit einer neuen Geschichte zurück, mal amüsant, mal nachdenklich.

Auch Endler, der selbst schon in Rente ist, kommt beim Anblick der Rikschas ins Grübeln. Er stellt sich vor, wie er selbst eines Tages nicht mehr der Fahrer, sondern der Gefahrene sein wird. „Dann bin ich vielleicht erst traurig, weil ich nicht mehr selbst fahren kann“, sagt er. „Aber dann weht mir auch schön der Wind um die Nase.“ Und das, findet er, das ist ein tröstlicher Gedanke.

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