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Christine Pilot: Kulickes kommen!

Erwachsenenbeitrag

Es sollte ein kleines, aber feines Taufessen werden. Wobei sich „klein, aber fein“ sowohl auf das Essen als auch auf die Runde der Gäste bezog. Ganz wenige nur hatten wir eingeladen: meine Schwiegermutter (gleichzeitig Oma), meinen Schwager (gleichzeitig Pate), meine engste Freundin (gleichzeitig Patin) und deren Mann. Warum auch unnötige Risiken eingehen? Meine Schwiegermutter ist nämlich, was Kontakte angeht, sagen wir, etwas „wählerisch“; bei meiner Freundin und ihrem Mann, beide promovierte Juristen, würden wir aber kaum etwas falsch machen können. Neben den Gästen gab es natürlich noch uns: meinen Mann und mich, unseren 16jährigen Yannis und Benni, den Täufling, den Nachkömmling, das absolute Überraschungsbaby. Bennis Geburt hatte unseren Umzug erfordert, die größere Wohnung diverse kostspielige Anschaffungen und diese wiederum… Kurz, wir hatten beschlossen nicht essen zu gehen, sondern unsere Gäste selbst zu bewirten. Als Menü hatte ich mir folgendes ausgedacht: voran ein chinesisches Gemüsesüppchen („Das Süppchen, das den Drachen freundlich stimmt“, ein Name, den ich im Hinblick auf meine Schwiegermutter allerdings lieber ver-meiden wollte), danach „Schweinefilets à l’estragon“ mit einer von mir kreierten „sauce moutarde“, als Beilage kleine „roast potatoes“ und zum Dessert Vanille-eis mit heißen Kirschen – ein Klassiker und Tribut an meine Schwiegermutter, die es als ehemalige Studienrätin sowieso ständig mit den Klassikern hat. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass Ostern war und sich für sie natürlich Lamm anbot, dessen Geschmack mir aber einfach nicht liegt, weshalb ich besagtes Süppchen brauchte. Nun, nach der Rückkehr aus der Kirche, einem Glas Sekt für die Taufgesellschaft und einem Teller Brei für Täufling Benni stand ich also in der Küche. Auf den vorderen Kochfeldern erhitzte ich Süppchen und Sauce, auf dem hinteren, ovalen, das Bratfett für das Fleisch, daneben köchelte der Kirschsaft ein, im Backofen schmurgelten die „roast potatoes“… Da kam ich auf die Idee noch den Grill dazu zu schalten, damit sie diese leckere krosse Außenschicht kriegten. Ich drehte also den einen Schalter auf „Grill“, den anderen auf „maximal“ und – dem Herd gingen sämtliche Lichter aus. „Scha-hatz?“, rief ich irritiert, „SCHA-HATZ, kommst du mal?“ Schatz kam: entspannt, mit einem Glas Sekt, wurde aber immer angespannter. Denn: 1. Die Herdsicherung war herausgeflogen. 2. Wir brauchten eine neue. 3. Wir hatten keine. Und nun? „Vielleicht können uns ja Nachbarn eine Sicherung geben“, grübelte mein Mann. „OK, dann lass uns mal überlegen. Also, unsere Nachbarin: ist bei ihren Kindern. Die Familie über uns: ist verreist. Bleiben: schräg über und schräg unter uns.“ „Und direkt unter uns“, sagte mein Mann. „Kulickes oder wie die heißen.“ „Kulickes, ich bitte dich!“ Und ich begann meinem Mann zu erklären, warum ich diesen Kontakt tunlichst vermied: erzählte von Frau Kulickes laut-stark ausgestoßenen Flüchen, die man allerdings nur tagsüber hörte, denn nachts trieb sie sich regelmäßig irgendwo rum; erzählte von den beiden vierjährigen Gören, als „die schrecklichen Zwillinge“ im Haus bestens bekannt; von Yvonne, der frühreifen 14jährigen, die spätabends vor der Haustür mit Jungs herum-knutschte (was ihrer Mutter natürlich entging) und von ihm, Herrn Kulicke, von dem es hieß, dass er trank und deshalb doch vor einem Vierteljahr… „He, stopp!“, unterbrach mich mein Mann, „Wir brauchen nur eine Herdsicherung!“ Und: Er werde jetzt einfach mal Yannis losschicken, der könne gleich was gegen seine Schüchternheit tun. Yannis ist wirklich ein bisschen schüchtern (auch was den Kontakt zu Mädchen betrifft) und ließ sich folglich nur schwer bewegen: „Und wenn die alle keine Ersatzsicherung haben? Und vielleicht auch grade beim Kochen sind?“ „Dann sag ihnen, sie kriegen von uns was zu essen!“ Damit konnte ich ihn endlich ins Treppenhaus schieben. Um die Verzögerung zu überbrücken, tranken wir noch ein Gläschen Sekt. „Hättest dir auch mal ein Kleid anziehen können“, mäkelte meine Schwiegermutter mit Blick auf meine Hosen, woran ich die Wirkung des Alkohols erkannte, der sie immer erfrischend direkt werden lässt. Zum Glück kam in dem Moment Yannis zurück: „Also, schräg über uns, die haben selbst grade Gäste; schräg unter uns, die sind gar nicht da… Aber Kulickes!“ Er hielt strahlend ein kleines weißes Ding in die Höhe. „Allerdings…“, kam es auf einmal verlegen, „ich glaube, die haben was falsch verstanden: Als ich nämlich sagte, sie könnten von uns Essen haben, da…“ In dem Moment klingelte es. „Nett, dasse uns gleich einjelaan ham! Wir ham ooch von uns noch wat mitjebracht.“ Allen voran Frau Kulicke, die üppige Figur durch hohe Absätze gestreckt und, wie ich feststellte, im Kleid; dahinter, unscheinbar, Herr Kulicke mit einer Flasche Wein im Arm, die schrecklichen Zwillinge mit je einem Topf und dann Yvonne: mit einem solchen Dekolleté, dass selbst ich als Frau nur auf ihren Busen starrte und den Bräter, den sie trug, bloß schemenhaft wahrnahm. Frau Kulicke stöckelte in Richtung Taufgesellschaft, Herr Kulicke taperte hinterher und das junge Gemüse verschwand in der Küche und stellte dort Töpfe und Bräter ab. „Wir sinn die Nachbarn von een Stock tiefa“, hörte ich Frau Kulicke im Wohnzimmer rufen und stellte mir meine Schwiegermutter vor, die behauptete, je ausgeprägter der Dialekt desto niedriger die soziale Schicht, konnte dem jedoch nicht weiter nachhängen, da Frau Kulicke zu mir in die Küche kam. „Wat jibsn bei Ihn’? Bei uns jibs Lamm. Aba wat Sie hier ham, is ja ooch wat Leckret, nur der Estragon, kiekense mal, der is schon janz schlaff. Aba den krieng wa wieda hin…“ Kurz darauf ruhten die Zweiglein in eisgekühltem Wasser und – ich greife vor – plusterten sich ungemein auf. „Ick arbeite doch inne Jastronomie. Naja, wo mein Mann jetzt arbeitslos is! Aba einfach isset nich, det kannick Ihn’ saren. Imma erst aams zur Arbeit jehn un oft erst frühmorjens nach Hause komm… Und wenn denn Janette und Janine da sinn, meinse, die würden mir schlafen lassen?“ So war das also, dachte ich, während das Fett beim Anbraten der Filets nur so zischte und ein Gespräch vorübergehend nicht möglich war. Umso besser verständigten wir uns danach: Im Ofen rückten das kulickesche Lamm und meine „roast potatoes“ zusammen, in der Microwelle, übereinander gestapelt, ihre grünen Bohnen und meine „sauce moutarde“ und auf dem Herd fand sich dadurch Platz für ihre Kartoffeln. Während alles fröhlich vor sich hingarte, zogen wir zwei Frauen den Esstisch aus. Die anderen Erwachsenen verkosteten inzwischen den Wein (der Mann meiner Freundin mit verzückter Miene); die Zwillinge hockten, Faxen machend, rechts und links von Bennis Wippe, und die zwei Großen saßen daneben, die Kleinen betrachtend fast wie stolze Eltern, wäre da nicht Nadines kokette Haltung gewesen. Endlich konnten wir das Essen auftragen. Das Süppchen brauchte gar keinen mehr freundlich zu stimmen: Meine Schwiegermutter hatte bereits glänzende Augen und strahlte noch mehr, als sie den Lammbraten sah. „Dazu ist meine Schwiegertochter ja nicht fähig!“, rief sie aus, erneut erfrischend direkt, was sie nach dem Wein wohl noch öfter sein würde. Und tatsächlich! Mitten in das Schlemmen hinein fragte sie: „Herr Kulicke, was machen Sie eigentlich beruflich?“ Jetzt kommt’s, dachte ich, auf alles gefasst. „Nüscht“, sagte dieser völlig arglos. „War jahrelang Busfahrer, musste aber uffhör’n.“ Und griff mit bedeutsamer Geste zum Glas. Die Haltung meiner Schwiegermutter änderte sich nur um eine Nuance, ebenso ihr Gesichtsausdruck, doch es genügte, um uns Zuhörer zum Schweigen zu bringen. „Fehlt Ihnen ohne Arbeit nicht etwas?“, fragte sie in strengem Lehrerinnen-Ton. „Fehln? Mir? Nee, wirklich nich.“ Herr Kulicke legte Messer und Gabel nieder. „Wat meinse, watick früher für Alpträume hatte! Wie oft ick jeträumt hab, dassick rechts abbieje, wo ick links abbiejen muss! Schweißjebadet warick danach…“ Meine Schwiegermutter sah ihn an wie eine Erscheinung: „Herr Kulicke, Sie sind der erste. Der erste, dem es so ging wie mir! Ich war Studienrätin, müssen Sie wissen und wie oft - wie oft! - hab ich geträumt, ich steh vor den Schülern und weiß nichts zu sagen. Bin überhaupt nicht vorbereitet. Ein Alptraum…“ Sie schauderte noch im Nachhinein, um sich gleich darauf ihre Söhne vor zu nehmen: „Ihr habt das ja nie verstanden und euer seliger Vater ebenso wenig...“ „Ick vasteh det.“ Herr Kulicke nickte gewichtig und nun herrschte eine geradezu andächtige Stille. „Mama, wir hol’n mal die Käsetorte!“, krähte da Yvonne in das Schweigen hinein, sprang auf und zog Yannis hinter sich her. Sie blieben erstaunlich lange fort und kehrten nicht nur mit der Torte, sondern auch mit leuchtenden Augen zurück.

Es war ein erstaunliches Fest geworden, ein Fest mit einer enormen Vielfalt, bei der zwar nicht alles zueinander passte, sich uns aber ungeahnte Kombinationen erschlossen: Estragon und grüne Bohnen, Käsetorte und heiße Kirschen, diese Alpträume und jene Alpträume, vielleicht gar Yvonne und unser Yannis. Ein gutes erstes Fest für Benni, der, von den Zwillingen noch einmal gefüttert, trotz Stimmengewirr und Besteckgeklapper zufrieden in seiner Wippe schlief.

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