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Zeig mal! Ein gutes Klassenklima und ein soziales Lernnetzwerk machen das Lernen für alle Kinder einfacher – ob mit oder ohne Fluchtgeschichte.

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AG für Flüchtlingskinder: Wir werden uns verstehen

Ein Projekt aus der Schul- und Unterrichtsforschung fördert das Miteinander von geflüchteten Kindern und ihren Schulkameraden.

Der gemeinsame Schulweg, Vokabelnabfragen im Pausenraum, Herumalbern im Sportunterricht – oder sogar das Abschreiben der Mathe-Hausaufgaben: Mitschülerinnen und -schüler teilen nicht nur Klassenraum und Pausenbrot, sondern auch viel Freud und Leid. Oft halten diese Freundschaften über das Abschlusszeugnis hinaus. Deshalb sind sie gerade für Flüchtlingskinder besonders wichtig, um in Deutschland Fuß zu fassen.

Eine am Arbeitsbereich Schul- und Unterrichtsforschung der Freien Universität Berlin entwickelte und von der Robert-Bosch- Stiftung geförderte Nachmittags-AG an Berliner Schulen soll nun Kindern aus Flüchtlingsfamilien die soziale Integration erleichtern. In Tandempaaren arbeiten in der „WirWerden“-AG geflüchtete Kinder im Grundschulalter und ihre Schulkameradinnen und -kameraden zwischen zehn und zwölf Jahren gemeinsam an verschiedenen Themen. Ziel ist ein gutes Klassenklima und ein soziales Lernnetzwerk, das den Kindern beim Ankommen in ihrer neuen Heimat helfen soll.

„Wir können keine Freundschaften herbeizaubern. Aber wir können Gelegenheiten schaffen, einander kennenzulernen“, fasst Laura Trölenberg das Konzept des Forschungsprojekts „Peer-Assistierte Soziale und Identifikatorische Integration geflüchteter Schülerinnen und Schüler“ (PAI) zusammen. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin koordiniert das Projekt, das in der Pilotphase steckt. In derzeit vier Berliner Schulen steht die „WirWerden“-AG nach Unterrichtsschluss auf dem Stundenplan. Die Teilnahme ist für alle Schülerinnen und Schüler freiwillig. Angeleitet von geschulten Studierenden aus dem Arbeitsbereich Schul- und Unterrichtsforschung sprechen die Kinder spielerisch über Themen wie Integration, Geschlecht, Identität.

Mehr als 100 000 Kinder sind 2016 nach Deutschland geflüchtet

Etwa, indem den AG-Kindern die Sprachbotschaft eines Schülers aus Argentinien vorgespielt wird. Darin erzählt der Junge, dass er sich in seiner Klasse unwohl fühlt und erklärt, warum er das Gefühl hat, nicht dazuzugehören. Die Kinder der „WirWerden“-AG überlegen dann gemeinsam, welche praktischen Tipps sie dem Jungen geben und wie sie ihn unterstützen können. Diese kleinen Mutmacher werden ebenfalls in Sprachbotschaften festgehalten. „Das ist ein Beispiel, wie mit den Kindern gemeinsam über Integration und Empathie gesprochen werden kann“, sagt Trölenberg.

Psychologie-Professorin Bettina Hannover und die habilitierte Psychologin Lysann Zander vom Arbeitsbereich Schul- und Unterrichtsforschung haben gemeinsam mit Laura Trölenberg das Forschungskonzept der AG entwickelt. „Forschung hat immer auch eine gesellschaftliche Verantwortung“, sagt Trölenberg mit Blick auf die Expertise am Arbeitsbereich Schul- und Unterrichtsforschung.

Mehr als 100 000 Kinder im schulpflichtigen Alter sind einer Statistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zufolge 2016 mit oder ohne ihre Familie nach Deutschland geflüchtet. Noch immer werden an Schulen Konzepte gesucht, um ihnen und ihrer besonderen Situation gerecht zu werden.

Die "WirWerden"-AG soll ein offener Begegnungsraum sein

In einigen Bundesländern wie Berlin gibt es sogenannte Willkommensklassen. Maximal 15 geflüchtete Kinder lernen hier gemeinsam die deutsche Sprache und Kultur kennen. Es gibt Übersetzungshilfen und eine Sprachförderung. Befürworter dieser Sonderklassen betonen die große Aufmerksamkeit, die den teils traumatisierten oder noch nicht alphabetisierten Kindern zuteil wird. Kritiker sagen, so würden die Flüchtlingskinder von den anderen Kindern der Schule isoliert und der Übergang in eine Regelklasse werde erschwert. „Manche Schulen bringen die Schülerinnen und Schüler deshalb in Fächern wie Sport oder Kunst zusammen, in denen die Sprache eine kleinere Rolle spielt“, sagt Trölenberg.

Auch die „WirWerden“-AG soll ein Begegnungsraum sein, in dem über Werte und Einstellungen gesprochen wird. „Wir können dort keine therapeutische Traumabewältigung leisten“, sagt Laura Trölenberg. Der Nachwuchswissenschaftlerin und den in den Arbeitsgruppen tätigen Studierenden ist es wichtig, dass sich die Kinder auf Augenhöhe begegnen. Auch deshalb gibt es zwar Lehrmaterial der AG auf Arabisch, Persisch und Englisch; gesprochen wird aber Deutsch. „Die Sprachförderung ist ein wichtiges Element des Kurses und der Integration überhaupt“, erläutert Laura Trölenberg.

Das „WirWerden“-Projekt soll Lehrerinnen und Lehrern auch langfristig nutzen, um Integrationsarbeit zu leisten. Durch Befragungen und Beobachtungsdaten messen die Wissenschaftlerinnen deshalb die Wirksamkeit der Schul-AG. Nach Evaluation des Projekts sollen die Unterrichtsmaterialien und die Forschungsergebnisse den Lehrkräften kostenfrei angeboten werden. In etwa einem Jahr sollen Lehrerinnen und Lehrer in Berlin mit dem entwickelten Material arbeiten können.

Schulen mit „Willkommensklassen“ für Kinder in der vierten oder fünften Klasse können noch an dem Projekt „WirWerden“ teilnehmen. Im März startet ein neuer Durchgang mit etwa zehn Treffen. Für weitere Informationen zum Projekt und zur Teilnahme daran wenden sich interessierte Lehrkräfte an die E-Mail-Addresse: laura.troelenberg@fu-berlin.de

Annika Middeldorf

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