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Wissenschaftliche Distanz bei räumlicher Nähe: Joachim Gauck und Paul Nolte (hinten links).

© Guido Bergmann

Unterwegs mit Joachim Gauck: Kein Philosophenkönig

Der Historiker Paul Nolte von der Freien Universität hat den Bundespräsidenten Anfang Oktober auf dessen USA-Reise begleitet.

Der Traum vom Philosophenkönig geistert seit zweieinhalbtausend Jahren durch die Welt: Sollten nicht, wie es schon Platon vorschwebte, die Philosophen, die klügsten Menschen, die Wissenschaftler die Welt regieren? Andererseits: Der Beruf der Intellektuellen ist Kritik, stellte der Soziologe M. Rainer Lepsius 1964, auch schon klassisch geworden, fest. An der Freien Universität, zumal auf der West-Berliner Insel und in Zeiten des Protestes, neigte sich die Waage eindeutig zur Kritik der Macht. Seit dem Umzug von Parlament und Regierung, Verbänden und Thinktanks ins neue Berlin sind Berührungen mit der Politik auch für die Forscherinnen und Forscher in Dahlem normal geworden: als Mitwirkung in einer Expertenkommission, in der Podiumsdiskussion einer parteinahen Stiftung und vielen anderen Formen mehr. Die räumliche Halbdistanz zum politischen Betrieb in Berlin-Mitte kann da schon wieder ein Vorteil sein.

Das Telefon klingelt im Büro: „Hier ist das Bundespräsidialamt. Wir möchten Sie einladen, den Bundespräsidenten auf seiner Reise in die USA zu begleiten.“ Aus Anlass des 25. Jahrestages der deutschen Wiedervereinigung möchte Joachim Gauck den transatlantischen Verbündeten besuchen, ohne dessen vorbehaltlose Unterstützung es die Einigung womöglich nicht gegeben hätte.

Und er möchte Fragen stellen an die Geschichte von Freiheit und Demokratie in den USA seit dem 18. Jahrhundert, an Gemeinsamkeiten und Bruchlinien in unserem Werteverständnis, auch vor dem Hintergrund aktueller Konflikte zwischen unseren beiden Ländern wie der NSA-Affäre. Gesucht: ein Wissenschaftler mit historisch-politischer Kompetenz für die Geschichte der Demokratie, der Vereinigten Staaten und des deutsch-amerikanischen Verhältnisses. Wird man da Einfluss nehmen können, ein bisschen Philosophenkönig spielen, oder wird man zum schmückenden Beiwerk des professionell-politischen Apparates?

Der Bundespräsident ist neugierig, er will lernen

Als es losgeht nach Philadelphia und weiter in die Hauptstadt Washington, stellt sich schnell heraus: Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Die kleine Delegation aus Wissenschaft und Kultur ist nah dran, und der Bundespräsident ist neugierig, er will lernen. Bei einem abendlichen Gespräch der deutschen Experten mit amerikanischen Verfassungshistorikern und Juristen im National Constitution Center von Philadelphia hört er aufmerksam zu – und meldet sich immer häufiger selbst zu Wort. Wir stehen vor einem Original der Unabhängigkeitserklärung und an der „Liberty Bell“, dem Vorbild der Freiheitsglocke im Schöneberger Rathaus seit 1950. Manchmal gibt es Gelegenheit und Anlass, die sehr professionellen amerikanischen „Fremdenführer“ sachte zu korrigieren oder zu ergänzen. An dem erst vor wenigen Jahren eingeweihten Denkmal für den Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King prallen historische Erinnerung und Gegenwartskonflikte aufeinander: Sind die Beziehungen zwischen Schwarz und Weiß erneut auf einem Tiefpunkt, wie in den 1950er Jahren? Da möchte man gerne mehr sagen: zur komplizierten Geschichte der Rassenbeziehungen in den USA oder überhaupt: ob Geschichte eine Lehrmeisterin der Gegenwart sei? Aber das hier ist kein Universitätsseminar, Zeit und Gelegenheit sind knapp.

Auf dem Rückflug am nächsten Abend bedankt sich der Bundespräsident. Das ist genauso ernst gemeint wie unser Dank zurück. Nun grübeln wir gemeinsam: Philosophenkönige sind wir in den letzten Tagen nicht gewesen. Experten- Souffleure der Macht? Oder schlicht Bürger in der Mitwirkung an der Demokratie? Und jeder nimmt ein langes Nachdenken über die öffentlichen Aufgaben von Wissenschaft mit zurück nach Hause, auch nach Dahlem.

Der Autor ist Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte am Friedrich- Meinecke-Institut der Freien Universität.

Paul Nolte

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