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Westbindung und Wohlstand?: Was braucht die Ukraine nach dem Krieg?

Viele fordern eine Neuauflage des Marshallplans für den Wiederaufbau der Ukraine.

Von Pepe Egger

Die Bilder der Belagerung gingen wochenlang um die Welt: Im Stahlwerk in Mariupol harrten Hunderte ukrainische Kämpfer aus, während die russische Armee das riesige Hüttenwerk am Asowschen Meer immer enger einkreiste und beschoss.

Es war nicht das erste Mal, dass das „Metallurgische Kombinat Asow-Stahl“ durch Krieg in Mitleidenschaft gezogen wurde: Unter Stalin in den 1930er Jahren erbaut, von Hitlers Truppen im Zweiten Weltkrieg zerstört, wurde das Asow-Stahlwerk von den Sowjets nach Kriegsende wiedererrichtet. Nun haben russische Truppen das Hüttenwerk beschossen und beschädigt. Sein Eigentümer, Rinat Achmetow, forderte angesichts der Verwüstung durch den russischen Krieg einen „neuen Marshallplan“ für den Wiederaufbau des Stahlwerks sowie der Ukraine insgesamt.

Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, die US-Botschafterin in Berlin Amy Gutmann und der deutsche Finanzminister Christian Lindner haben sich den Vorschlag zu eigen gemacht, dass die Ukraine eine Neuauflage des Marshallplans bräuchte. Doch wie sinnvoll wäre so etwas? Und was hat es mit dem historischen Programm zu tun, das am 5. Juni 1947, also vor 75 Jahren, vom damaligen US-amerikanischen Außenminister George C. Marshall der Öffentlichkeit vorgestellt wurde?

Jessica Gienow-Hecht, Professorin für Geschichte am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin, nennt den Marshallplan das „erfolgreichste politische Projekt der transatlantischen Geschichte“. Angekündigt 1947, dann von 1948 bis 1952 in die Tat umgesetzt, unterstützte der „European Recovery Plan“, der in Europa nach seinem Ideengeber „Marshallplan“ genannt wurde, insgesamt 16 Länder dabei, die Zerstörung des Zweiten Weltkrieges und die wirtschaftliche Misere der unmittelbaren Nachkriegsjahre hinter sich zu lassen. Nebenbei hatte der Plan die beabsichtigte Wirkung, durch die Hebung des Lebensstandards die Sympathien mit kommunistischen Parteien und damit den Einfluss der Sowjetunion zu dämpfen.

George C. Marshall selbst formulierte das in seiner Rede am 5. Juni 1947 an der Harvard-Universität so: Europa könne ohne die Hilfe der USA nicht wieder auf die Beine kommen. Aber auch im Interesse Amerikas brauche es eine „Gesundung der Wirtschaft in der Welt, ohne die es weder politische Stabilität noch gesicherten Frieden geben kann“.

Den USA ging es um eine starke Wirtschaft in Europa – und um politischen Einfluss

So ähnlich ist der Marshallplan im kollektiven bundesdeutschen Gedächtnis verankert: als Grundsteinlegung für das Wirtschaftswunder, als wirtschaftlicher Anschub für die Westbindung und Demokratisierung der neu gegründeten Bundesrepublik. Doch zugleich geht dieses Bild in der Erinnerung in mehrerlei Hinsicht fehl.

Historikerin Jessica Gienow-Hecht weist erstens darauf hin, dass der Umfang des Marshallplans wohl nicht groß genug für die Wirkung war, die ihm zugeschrieben wird: Insgesamt umfasste er 13 Milliarden Dollar, das entspräche heute umgerechnet rund 115 Milliarden Dollar. Aber das ist – aufgeteilt auf vier Jahre und mehr als ein Dutzend Länder – weniger, als man denken würde. Ein Viertel der Gelder floss nach Großbritannien, ein Fünftel nach Frankreich, während Deutschland rund ein Zehntel der Zahlungen erhielt. Die Sowjetunion, der ebenso wie den mittel- und osteuropäischen Staaten die Hilfe ebenfalls angeboten worden war, hatte sich bald aus den Verhandlungen zurückgezogen – und auch den unter ihrem Einfluss stehenden europäischen Staaten die Teilnahme am Programm verboten.

Zweitens aber, so die Historikerin, gründete sich der Erfolg des Marshallplans darauf, dass er eben nicht nur im Verteilen von Hilfsgeldern bestand. Sondern darüber hinaus auch in einer groß angelegten PR-Operation, einem „cleveren Massenerziehungsprogramm mit Postern, Radioprogrammen, Vorlesungen und mehr als 280 Filmen, die von mehr als 50 Millionen Europäern gesehen wurden“. Zentraler Inhalt: die Art und Weise, wie die Wirtschaft wiederaufgebaut werden sollte. Europa sollte dem Vorbild der US-Ökonomie nacheifern, dem einer kapitalistischen Marktwirtschaft, die aus Massenproduktion, Effizienz und Produktivitätswachstum rasant steigende Lebensstandards erwachsen lässt.

Das führte dazu, dass „die Konsequenzen des Marshallplanes weit über das hinausgingen, was sowohl George C. Marshall als auch der amerikanische Kongress ursprünglich erwartet hatten“, sagt Jessica Gienow-Hecht. Sicher, Marshall habe Wohlstand schaffen und dafür sorgen wollen, dass Frieden in Europa herrsche. Aber: „Er konnte nicht vorhersehen, wie unglaublich visionär dieser Plan werden sollte, welch eine Inspiration er für die Europäer darstellen und wie langanhaltend seine Bedeutung in Europa und der Welt sein würde. So sehr, dass wir seit 75 Jahren immer wieder von neuem von einem Marshallplan sprechen: einen für Afrika, einen für den globalen Süden, einen für das Klima, und jetzt einen Marshallplan für die Ukraine.“

Korruption und Schwäche der Institutionen sind schwerer zu beseitigen als Kriegstrümmer

Worum aber geht es in der aktuellen Situation? Allein um humanitäre Hilfe nach dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine? Oder eher darum, die Westbindung der Ukraine zu stärken und damit den Einfluss Russlands zurückzudrängen? Für Alexander Libman steht außer Frage, dass der Westen mit der Idee eines Marshallplans nicht nur Hilfszahlungen, sondern auch das Ziel der Westbindung der Ukraine verfolge. Libman ist Professor für Politikwissenschaft am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Er sagt: Es sei vielmehr selbstverständlich, dass derartige Programme auch ein „Soft Power“-Element in sich trügen.

Dass aber vor allem Politiker in Westeuropa von einem neuen Marshallplan sprechen, findet Libman bemerkenswert: Das Wachrufen einer kollektiv erinnerten Erfolgsgeschichte, auf der der Wohlstand eben dieser Länder gründet, diene auch dem Zweck, die Steuerzahlenden anzusprechen. Und die müssten ja am Ende dafür bezahlen. Das Anknüpfen an das historische Vorbild dient so eher einer Kommunikationsstrategie, ausgerichtet auf die Geberländer als auf die Ukraine.

Was aber sowohl Alexander Libman als auch Jessica Gienow-Hecht als problematisch ansehen, ist die Hoffnung, dass ein derartiger Plan die ukrainische Wirtschaft schnell und von Grund auf transformieren könnte: Vor allem die grassierende Korruption und die Schwäche der ukrainischen Institutionen seien viel schwieriger zu beseitigen als die Trümmer des Krieges.

Auch Jessica Gienow-Hecht weist auf ein Spezifikum des historischen Marshallplans hin, das oft vergessen wird: Um über die Verteilung von Geldern und die Erfüllung von Zielen in den europäischen Staaten zu wachen, gab es damals flankierend zu den Geldflüssen „eine Reihe von Maßnahmen, wie zum Beispiel intensive Kontrollen vor Ort und die Einrichtung einer unabhängigen Aufsichtsbehörde“.

Würde die Ukraine einer derartigen Aufsicht mit Durchgriffsrechten zustimmen? Ein Indiz für die damit verbundenen Herausforderungen liefert das Asow-Stahlwerk. Sein Eigentümer, Rinat Achmetow, wird als reichster Mann der Ukraine gehandelt: Er ist ein Oligarch, der über ein weitreichendes Firmengeflecht verfügt und sich in der Vergangenheit auch politisch betätigt hat. Noch im November 2021 hatte Präsident Selenskyj Achmetow beschuldigt, einen Staatsstreich gegen ihn, Selenskyj, zu planen. Nach dem russischen Angriff begruben die beiden ihren Konflikt, und Achmetow positionierte sich klar an der Seite der ukrainischen Regierung. Doch manche Beobachter erklären das damit, dass sich Achmetow von der wirtschaftlichen Orientierung der Ukraine nach Europa und sogar in die Europäische Union viel verspricht.

Alexander Libman warnt: Sollten westliche Hilfsgelder die für die Ukraine gewünschten Ergebnisse – wegen institutioneller Defizite oder mangelnder Kontrolle – nicht bringen oder gar in korrupten Kanälen versickern, könnte dies dazu führen, dass die Bevölkerung sich erneut enttäuscht vom Westen abwende.

Wer also heute Hilfen für die Ukraine unter dem Label eines Marshallplans fordert, tut gut daran, das historische Vorbild genau zu studieren. Um dann zu sehen, ob und wie es sich für eine Neuauflage eignet.

Für den Inhalt dieses Textes ist die Freie Universität Berlin verantwortlich.

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