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Gesundheit: 1933 von der TH Charlottenburg entfernt und zur Emigration gezwungen - die TU ehrt den jüdischen Professor

Über 66 Jahre nach dem Machtantritt der Nazis rollt die Technische Universität (TU) Berlin einen ihrer spektakulärsten Fälle von Judenverfolgung neu auf. Im März 1933 war der renommierte Fabrikplaner Georg Schlesinger unter fadenscheinigen Vorwürfen von der Hochschule geworfen worden.

Über 66 Jahre nach dem Machtantritt der Nazis rollt die Technische Universität (TU) Berlin einen ihrer spektakulärsten Fälle von Judenverfolgung neu auf. Im März 1933 war der renommierte Fabrikplaner Georg Schlesinger unter fadenscheinigen Vorwürfen von der Hochschule geworfen worden. Er musste emigrieren. Jetzt widmete die TU dem jüdischen Wissenschaftler eine Gedenktafel, auf dem Hauptgelände an der Straße des 17. Juni. "Bei der Besinnung auf unsere Traditionen müssen wir uns auch mit den dunklen Kapiteln unserer Geschichte auseinandersetzen", erklärte TU-Präsident Hans-Jürgen Ewers. "Es ist geboten, Georg Schlesinger den Rang einzuräumen, der ihm gebührt." Der Ingenieur wäre in diesem Jahr 125 Jahre alt geworden. Von heute an ehrt ihn die TU mit einem wissenschaftlichen Kolloquium.

Schlesinger entstammte dem jüdischen Mittelstand, der Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt nach Berlin drängte. Seine Eltern, jüdische Kaufleute, zogen aus Pommern in die preußiche Metropole, um hier Handel zu treiben. Ihr Sohn lernte am naturwissenschaftlich ausgerichteten Falk-Realgymnasium und begann 1892 ein Studium des Maschinenbaus an der damaligen Königlichen Technischen Hochschule (TH) Charlottenburg. 1897 diplomierte er über die Steuerung von Dampfmaschinen und trat als Konstrukteur in die Werkzeugmaschinenfabrik Ludwig Loewe ein, die sich damals auf Fertigungslinien nach amerikanischem Vorbild spezialisierte. Schon fünf Jahre später stieg der begabte Jungingenieur zum Chef der Konstruktionsabteilung auf. 1897 schrieb er seine Promotion über den Austauschbau an Werkzeugmaschinen. Damit legte er den Grundstein für das heute noch weltweit gültige System der Passungen, ohne das die moderne Massenfertigung undenkbar ist. Um den neuen Trend nicht zu verschlafen, richtete die TH Charlottenburg im Folgejahr einen Lehrstuhl für Fabrikbetrieb und Werkzeugmaschinen ein, den Schlesinger übernahm.

"Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges baute er sein Institut aus und machte die Organisation des modernen Fabrikbetriebs zu einer eigenständigen Wissenschaft. Vorher galt der Maschinenbau als unangefochtene Domäne der Konstrukteure", meinte Günter Spur, der Schlesingers Lehrstuhl für Fabrikbetrieb 1965 übernommen und zu neuer Weltgeltung verholfen hatte.

"Damals setzte sich die TH Charlottenburg an die Spitze der modernen Industrieforschung", erläuterte Günter Spur. Erst 1906 zog die TH Aachen als zweite technische Hochschule in Deutschland mit einem ähnlichen Lehrstuhl nach. Wie viele seiner jüdischen Mitbürger begrüßte auch Schlesinger den Beginn des Ersten Weltkrieges. "Er war eine vielschichtige Persönlichkeit, die viele Widersprüche ihrer Zeit in sich vereinigte", analysierte Günter Spur. "Während des Krieges baute er in Spandau eine Gewehrfabrik auf, danach entwickelte er gemeinsam mit dem Chirurgen Ernst Ferdinand Sauerbruch neue Prothesen, um den Kriegsversehrten mit künstlichen Gliedmaßen zu helfen." Der sogenannte Sauerbruch-Arm wurde mit Hilfe der verbliebenen Restmuskeln gesteuert. Schlesinger richtete eine technische Prüfstelle für die Prothesen ein.

In den zwanziger Jahren unternahm er ausgedehnte Reisen in die USA, nach England, Japan und Russland, um dort neue Fabrikmethoden zu erkunden und Absatzmärkte für die deutschen Werkzeugmaschinenhersteller zu öffnen. Bis zur Weltwirtschaftskrise entwickelte sich der Export zum Hauptgeschäft der Branche. Schlesinger gehört somit zu den Vätern der Exportnation Deutschland.

Sogar die stalinistische Sowjetunion bezog zahlreiche Ausrüstungen und Anlagen von deutschen Herstellern. Schlesingers Institut an der TH Charlottenburg erreichte seine Blüte. Als die Nazis die Macht übernahmen, wurden Schlesinger die Russlandgeschäfte zum Verhängnis. Zwei seiner Assitenten denunzierten ihn wegen Industriespionage für die Sowjets. Im März 1933 durchsuchte die SA Schlesingers Wohnung, einen Monat später stand die Gestapo vor seiner Tür. Die Vorwürfe erwiesen sich zwar als haltlos, aber der jüdische Wissenschaftler durfte sein Institut fortan nicht mehr betreten. "Nur der Industrieverband der Werkzeugmaschinenhersteller hat sich damals für ihn stark gemacht", kritisierte Günter Spur. "Die TH Charlottenburg ließ ihren bekanntesten Ingenieur einfach fallen." Die beiden Denunzianten erhielten wichtige Funktionen im neu gegründeten Heereswaffenamt.

Schlesinger blieb noch bis Mitte der dreißiger Jahre in Deutschland. Trotz des Lehrverbotes gelang es ihm, sein berühmtes Lehrbuch über Werkzeugmaschinen abzuschließen und bei Julius Springer zu verlegen. Einige seiner jüdischen Assistenten fanden in seiner Wohnung Unterschlupf, über das Buchprojekt finanzierten sie einen bescheidenen Lebensunterhalt. Zu ihnen gehörte auch Franz Koenigsberger, der spätere Schwiegersohn Schlesingers. Er emigrierte nach England und besetzte dort den ersten Lehrstuhl für Werkzeugmaschinen an der Universität in Manchester.

Georg Schlesinger kam 1938 über Belgien und die Schweiz ebenfalls nach England. In Loughborough errichtete er 1939 das erste englische Forschungszentrum für Produktionstechnik, das er auch während des Zweiten Weltkrieges erfolgreich führte. Vier Jahre nach Kriegsende starb er im Londoner Stadtteil Wembley. Sein Berliner Institut war bei den Luftangriffen auf die "Reichshauptstadt" vollkommen ausgebrannt.

Heiko Schwarzburger

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