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Gesundheit: Aufstand auf offener Bühne

Der niedergeschlagene Protest vom 17. Juni 1953 ist für Historiker kein rein deutsches Ereignis mehr

Stefan Heym traut seinen Augen nicht. Als er am 17. Juni 1953 durch Berlins Straßen läuft, sieht der Schriftsteller demonstrierende Arbeiter und sowjetische Panzer. Er hört Schüsse. Heym notiert in seinem Tagebuch: „Arbeiter im Streik gegen den Arbeiterstaat – was geht da vor in den Menschen?“ Viele Historiker stellen sich diese Fragen noch heute, 50 Jahre danach. Intensiver denn je fragen sie: Was hat dieser Tag den Deutschen gebracht?

„Der Aufstand hat Berlin ins Zentrum des Kalten Krieges gerückt“, antwortet der Historiker Karl Schlögel von der Viadrina in Frankfurt/Oder. Der Systemkonflikt in der Mitte Europas habe sich manifestiert in der Art und Weise, wie die Sowjets reagierten: mit Gewalt. Und in der Art und Weise, wie sich die Westalliierten verhielten: gar nicht. So wurde der Protest niedergeschlagen. Immerhin war es ein Aufstand auf offener Bühne, ein Ereignis über Deutschland hinaus.

In der Forschung gibt es derzeit eine überraschende Verschiebung der Perspektive auf den 17. Juni. Der bisherige Streit, ob der Protest nun eine Arbeitererhebung gewesen sei oder ein Volksaufstand, ist in den Hintergrund getreten. Diese Debatte ist vielen Forschern wohl zu provinziell. Denn angesichts von schätzungsweise einer Million Demonstranten und angesichts der Forderungen nach Demokratie zweifelt kaum noch jemand daran, dass die Bewegung von allen Bevölkerungsschichten getragen wurde. Ja, inzwischen wird der 17. Juni 1953 noch höher eingeschätzt. Die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen etwa, Marianne Birthler, sieht in diesem Tag einen „Vorläufer der friedlichen Revolution von 1989“. Stolz auf die Demokratiebewegung – in Osteuropa hat sich dieses Gefühl längst durchgesetzt.

Das wurde deutlich bei einer Tagung des Instituts für Zeitgeschichte München und des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam. Dort ordneten die meisten Historiker den 17. Juni als Teil eines europäischen Freiheitskampfes ein. Wie in Berlin mussten in Budapest 1956 russische Panzer durch die Straßen rollen, um die Sehnsucht nach Freiheit zu unterdrücken, auch der Prager Frühling 1968 wurde vom Militär niedergewalzt.

Natürlich hatte jeder Aufstand seine eigene Geschichte, seine eigenen Auslöser und Umstände. Doch am Ende, so resümiert der Potsdamer Historiker Jürgen Danyel, waren sie sich in einem gleich: in ihrem revolutionären Ansatz. Jede Aktion, egal ob sie in ein Chaos auf Berlins Straßen mündete oder in wilde Streiks der polnischen Werftarbeiter, war Teil einer Protestbewegung für die Freiheit. Dieser Wunsch war von der Sowjetunion irgendwann nicht mehr niederzuschlagen. Die von den Soldaten erzwungenen Kompromisse zwischen Volk und Führung hielten nur bis zur friedlichen Revolution 1989/90.

Dann brach das kommunistische Machtsystem in ganz Europa zusammen. Die Rote Armee war nicht mehr fähig und willens, den Gang der Geschichte aufzuhalten. Nicht in Berlin, nicht in Budapest, Prag oder Warschau. Der 17. Juni 1953 war nicht der Tag der Deutschen, als der er lange gefeiert wurde. Er war ein Tag Europas.

Weitere Informationen im Internet:

www.17juni1953.de

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