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Gesundheit: Demokratischer Nachwuchs

Ferien von der Obrigkeit: Wie die Bewegung der „Kinderfreunde“ entstand

„Kinder an die Macht“ – als Herbert Grönemeyer in den 1980er Jahren dieses Lied sang, erntete er spontanen Beifall. Aber wie lernen Kinder Verantwortung, wie werden sie reif für die Demokratie? Heute gibt es Kinderparlamente, in denen sich der Nachwuchs übt. In der Weimarer Republik war es die sozialistische Bewegung der „Kinderfreunde“, die Jugendliche zu politischen Wesen erziehen wollte.

Eines war schon zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts klar: Der bis dahin selbstverständlich praktizierte Frontalunterricht konnte kein zukunftsfähiges Konzept sein. In bürgerlichen Kreisen entstand die Reformpädagogik, die erstmals eine eigene kindliche Persönlichkeit voraussetzte. Parallel dazu erkannte man die große Bedeutung von Bewegung an der frischen Luft für Heranwachsende.

In Deutschland dauerte es noch bis zum Jahr 1923, bis die sozialistische Jugendarbeit auf der Grundlage dieser Maximen eigene organisatorische Ansätze entwickelte. Das war die Geburtsstunde der „Kinderfreunde“. Ihnen widmet sich die aktuelle Ausstellung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung in Berlin.

Hauptinitiator der Bewegung war der Reichstagsabgeordnete und Volksbildungsstadtrat von Neukölln, Kurt Löwenstein. Durch sein Engagement erreichte die Bewegung bis 1933 rund 130 000 Kinder, mobilisierte zehntausend ehrenamtliche Helfer. Wichtigstes Experimentierfeld der neuen Pädagogik wurden zwischen 1927 und 1932 die jährlich als „Kinderrepubliken“ abgehaltenen Zeltlager.

Nicht nur konservativen Zeitgenossen erschienen diese größtenteils in Selbstverwaltung organisierten Lager zu anarchisch. Diese Ferienlager waren aber häufig die einzige Möglichkeit für die Arbeiterkinder, dem Grau der Städte zu entfliehen. Und sie konnten lernen, Verantwortung zu tragen: Bis zu viertausend Kinder lebten in verschiedenen Dörfern, die ihre Vertreter wählten, die wiederum die Dorfinteressen auf den regelmäßigen Vollversammlungen zur Geltung brachten.

Für Roland Gröschel, den Kurator der Ausstellung, waren diese Republiken „Labore der Demokratie und des Parlamentarismus“. Im Unterschied zu den zeitgleich stattfindenden Ferienlagern der politischen Rechten gab es keine militaristischen Rituale, sondern Sport. Jungen und Mädchen verbrachten in den „Kinderrepubliken“ die Ferien gemeinsam, was gerade in konfessionellen Kreisen die Gemüter erregte. Die Jugendlichen jedoch, das vermitteln die erstmals gezeigten Fotos, waren begeistert.

Vor allem anfangs bestand Einigkeit, dass man ein Gegengewicht zum in der Schule vermittelten Obrigkeitsdenken vermitteln wollte. Wen wundert es da, dass einzelne Länder – wie Bayern – ihren Schülern die Teilnahme an den Veranstaltungen der „Kinderfreunde“ untersagten. Weniger klar war hingegen, was die spezifischen sozialistischen Bildungsinhalte sein sollten. In Schulungen machten sich die ehrenamtlichen Helfer mit den Grundlagen der Sexualerziehung und altersgerechter Pädagogik vertraut.

Ein wichtiges Instrument war die Selbsterziehung in der Gruppe Gleichaltriger. Statt Konkurrenz sollte Kooperation gelernt werden, an Stelle enger religiöser Schranken weltliche Überzeugungen treten. „Die Kinderfreunde leisteten nachholende Bildung. Arbeiterkinder konnten so einen wichtigen Schritt in Richtung Chancengleichheit tun“, sagt Kurator Gröschel.

Die Nationalsozialisten verboten die „Kinderfreunde“ im Juni 1933. Löwenstein gelang nach einem Mordanschlag der SA die Flucht über Prag nach Paris, wo er 1939 noch vor Kriegsbeginn starb.

Schon im Juni 1945 gründeten sich in Berlin die ersten Gruppen neu – vor allem, um der Verwahrlosung und Unterernährung der Kinder entgegenzuwirken. In der sowjetischen Besatzungszone war die Pädagogik der „Kinderfreunde“ bis 1948/49 in der „Freien Deutschen Jugend“ prägend; dann erst setzten sich stalinistische Modelle der Jugenderziehung durch. Statt Selbsterziehung durch Gleichaltrige lautete das Credo nun Anpassung. Im Westen nahmen die neu gegründeten „Falken“ die Arbeit wieder auf. Seit den 70er Jahren allerdings wurden reformpädagogische Konzepte an den Schulen Allgemeingut. Und die „Falken“ verloren allmählich an Bedeutung.

Die Themen, die den „Kinderfreunden“ am Herzen lagen – Chancengleichheit und das Heranwachsen verantwortlich handelnder Menschen – haben indes in den letzten Jahren wieder an Bedeutung gewonnen. Ein Beispiel: die „internationale Kinderrepublik“, die in diesem Jahr in Südengland stattfindet.

Die Ausstellung ist noch bis zum 21. April in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, Warschauer Straße 34, in Berlin-Friedrichshain zu sehen. Sie ist von Montag bis Freitag von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist kostenlos.

Elke Kimmel

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