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Gesundheit: „Die Leitkultur-Debatte ist notwendig“

Der Politologe Michael Greven sieht die Integration der Migranten als neue deutsche Bewährungsprobe

Herr Greven, laut ZDFPolitbarometer halten 40 Prozent der Bundesbürger das Thema Patriotismus für wichtig, und 75 Prozent sind der Auffassung, dass man als Deutscher auf sein Land genauso stolz sein könnte wie andere Nationen. Hat sich da Ende vergangenen Jahres eine echte nationale Debatte angebahnt?

Die empirischen Daten sprechen dafür, dass sich das Maß an Identifikation der Deutschen mit der eigenen Nation im europäischen Vergleich normalisiert. Es ist heute nicht mehr zu unterscheiden von der Situation in Frankreich oder Italien.

Vor der Wiedervereinigung und auch noch Jahre danach hatten viele Deutsche Probleme, „Deutschland“ zu sagen. Was ist seitdem passiert?

So lange die DDR existierte, gab es einen guten Grund, dass es sensible, politisch denkende, reflektierte Menschen vermieden haben, einen der beiden deutschen Staaten als „Deutschland“ zu identifizieren. Man wollte nicht vereinnahmend über die DDR mitverfügen.

Die Hemmung zu sagen, „Ich bin Deutsche und stolz auf mein Land“ hat auch was mit den Verbrechen des Nationalsozialismus zu tun.

Die Alltagskultur in Deutschland erlaubt es heute, ganz unbefangen zu sagen, dass man Deutscher ist. Die NS-Vergangenheit unterscheidet uns aber bis heute von unseren europäischen Nachbarn. Deshalb kann es im normativen Sinn keinen unbefangenen Umgang mit der Vergangenheit geben. Das ist für die meisten Menschen aber kein Problem, das sie jeden Tag beschäftigt. Deshalb findet man in Umfrageergebnissen auch so wenig von diesen Bedenken, die eine dünne Schicht von Intellektuellen hegt.Auch hier gibt es also eine Normalisierung.

Seit dem islamistischen Mord an Theo von Gogh wird auch in Deutschland die Problematik der Parallelgesellschaft diskutiert – und auch wieder über die Leitkultur.

Diese Debatten sind dringend notwendig, auch wenn sie anfällig für politische Instrumentalisierung sind. Dass wir kein Einwanderungsland sind, ist eine der typisch deutschen Lebenslügen. Eine kritische Debatte über die durch die Einwanderung seit 30 Jahren entstandene Situation hat es nicht gegeben. Es gibt bis heute kaum Lösungsansätze für die teilweise katastrophale Situation der Migranten in den Schulen, die Ghettoisierung in bestimmten Wohngebieten oder die hohe Arbeitslosigkeit. Offenbar war die Schockerfahrung des Mordes in den Niederlanden notwendig, um diese Debatten endlich zu führen. Die Integration der Migranten ist eine Bewährungsprobe für eine Normalisierung der politischen Kultur im Nachkriegsdeutschland; eine Bewährungsprobe, die an die Ost-West-Integration nach ’89 heranreicht.

Halten Sie den Begriff Leitkultur für sinnvoll, um die Migranten an die Mehrheitsgesellschaft heranzuführen?

Die Frage ist nicht, ob der Begriff der Leitkultur eine Gegenvorstellung zum Multikulturalismus ist. Sondern: Ist diese Leitkultur einladend oder ausschließend? Jede Kultur erzeugt eine Differenz, die man als Leitkultur bezeichnen kann; also gibt es immer die Frage: Wer ist drinnen, wer ist draußen? Die Leitkultur, die in Deutschland gelebt wird, hat etwa Familienwerte, die von denen in Südeuropa stark abweichen. Aber Menschen, die in unserer Gesellschaft leben wollen, kann die Anerkennung des Grundgesetzes, also der in der Verfassungsordnung festgeschriebenen Menschenrechte abverlangt werden – weil sie universalistisch sind.

Machen Sie sich für den Verfassungspatriotismus stark, den der Philosoph Jürgen Habermas in den 80er-Jahren von dem Politikwissenschaftler Dolf Sternberger übernommen hat?

Habermas meint das, was ich das „obere Stockwerk“ der Identität nenne: Da handelt es sich um universalistische Rechte, um das Wissen von den Institutionen, die diese Rechte garantieren. Die Frage ist aber, wie eine Rechtsordnung sozial verankert ist. Erst im Untergeschoss kommen wir zum Patriotismus, zu den Einstellungen der Menschen. Die Anerkennung unseres Grundgesetzes darf kein abstrakter Vorgang bleiben. Bei der kulturellen Dimension des Patriotismus aber hapert es. Auch die hier geborenen Deutschen haben eine fatale Unkenntnis über zentrale Institutionen unseres Systems.

Was tun?

An den Schulen ist die Lehre über unser Gemeinwesen massiv abgebaut worden, Fächer wie Gemeinschaftskunde oder Politische Weltkunde wurden zurückgedrängt. Da muss dringend etwas geschehen. Denn in den Elternhäusern, wo kaum noch Zeitung gelesen und nicht über Politik gesprochen wird, werden die Kinder und Jugendlichen es nicht lernen. Wir brauchen darüber hinaus auch eine gesellschaftsweite Vermittlung dieses Wissens. Dazu kann die aktuelle Integrationsdebatte durchaus Anlass geben.

Der Dialog mit Zuwanderern aus muslimisch geprägten Regionen wird meist über die Religion gesucht. Ist der Tag der offenen Moschee der beste Weg, um miteinander ins Gespräch zu kommen?

Die Organisationsstrukturen der Zuwanderer sind von ihrer religiösen Identität geprägt. Das ist ein Problem. Was wir brauchen, ist ein verstärkter Dialog der aufgeklärten Eliten. Dies könnte dazu beitragen, dass die Zuwanderer die normalen zivilgesellschaftlichen Vermittlungsformen eines selbstbewussten Bevölkerungsteils entwickeln: Sie sollten sich mehr als bisher politisch organisieren, über Berufsverbände wahrnehmbar werden, sich als Elternvertreter oder in Stadtteilen engagieren. Von den Zuwanderern muss aber auch eine „nachholende Modernisierung“ erwartet werden. Da wird man weiterhin einen langen Atem brauchen. Aber es gibt auch Probleme, wo unmittelbar null Toleranz gelten sollte: Mädchen darf nicht die Teilnahme an Unterrichtsfächern verboten werden, Zwangsehen oder gar Genitalverstümmelungen dürfen wir auf keinen Fall zulassen.

Das Gespräch führte Amory Burchard.

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