zum Hauptinhalt

Gesundheit: Einwurf: Stabi-Sehnsucht

Es ist ein Trauerspiel: Sperrangelweit sind die Türen der Schließfächer geöffnet, wie gähnend aufgerissene Mäuler wirken die leer stehenden Schränkchen. Der in einem Bretterverschlag improvisierte Kiosk bleibt "auf Grund zu geringer Nachfrage leider dauerhaft geschlossen" und zwei Getränkeautomaten sollen die Cafeteria ersetzen.

Es ist ein Trauerspiel: Sperrangelweit sind die Türen der Schließfächer geöffnet, wie gähnend aufgerissene Mäuler wirken die leer stehenden Schränkchen. Der in einem Bretterverschlag improvisierte Kiosk bleibt "auf Grund zu geringer Nachfrage leider dauerhaft geschlossen" und zwei Getränkeautomaten sollen die Cafeteria ersetzen. Einer von ihnen ist defekt, statt Kraft-Malzbier und Fassbrause gibt es nur Apfelschorle und Multivitaminsaft. Die Staatsbibliothek - von Berlins angehenden Akademikern liebevoll Stabi genannt - hat die Pforten ihres Lesesaals geschlossen. Und deshalb herrscht im Foyer eine gespenstische Stille - selbst die Bauarbeiten, Grund der Schließung, werden in einer so rücksichtsvollen Lautstärke vorgenommen, wie man sie sich für die Sanierung des Nachbarhauses nur wünschen kann.

Was aber bedeutet es für Berlins Studenten, die heiligen Hallen am Potsdamer Platz von Juli bis (voraussichtlich!) Oktober nicht betreten zu können? Eingeschränkte Paarungsmöglichkeiten!, wird so mancher nun antworten. Doch an der Mär vom Heiratsmarkt Stabi ist genauso wenig dran wie an der Geschichte von der Spinne in der Yuccapalme - eine moderne Sage eben. Dennoch sind Cafeteria und Wiese der Bibliothek ideale Orte, um soziale Kontakte zu knüpfen und zu pflegen: Hier kann man Wohnungen finden oder Nachmieter, Parties und Segeltörns organisieren und sich mit dem Exfreund, der sich - kaum zu glauben - kurz vor dem Juraexamen befindet, endlich einmal aussprechen.

Hinzu kommt die Möglichkeit, die hermetisch abgeriegelte Akademikerwelt zu verlassen. Wer sich über Monate hinweg nur mit Privatrecht, Anatomie oder der "Göttlichen Komödie" beschäftigt, dem fehlt der Bezug zum wahren Leben. In der Stabi wird man ständig daran erinnert, dass man sich mitten in Berlin befindet: In der Eingangshalle holt ein bärtiger Mittfünfziger im lilafarbenen Kopf-bis-Fuß-Leinenoutfit seine Bücher aus der ebenfalls lilafarbenen Baumwolltasche. Im Lesesaal sitzt eine Frau am immer gleichen Arbeitsplatz und fertigt Bleistiftskizzen von den übrigen Besuchern an. Und wenn es nach der Mittagspause gar zu langweilig zu werden droht, lässt eine Bibliotheksbesucherin ihrem Unmut über die momentane politische Situation freien Lauf: "Faschisten!" brüllt sie. "Ihr seid doch alle Faschisten hier! Scheiß-Faschostaat!"

All das bleibt den Berliner Studenten nun also bis zum Wintereinbruch verwehrt - und warum? Weil 120 zusätzliche Arbeitsplätze entstehen sollen, vierzig sogar mit PC und Internet. Doch wer braucht in der Stabi Internet? Die Kommunikation findet hier face-to-face statt, das lehrt schon der Einlasskontrolleur! Seiner Kollegin deutet er über die Köpfe der Bibliotheksbesucher hinweg täglich ihr Sternbild. Niemals würde sie astrologische Informationen per SMS oder gar online beziehen!

Hierher kommt man, um in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Wissen aufzunehmen. Man flieht aus den eigenen vier Wänden, wo ständig das Telefon oder die Zeugen Jehovas klingeln, das dreckige Geschirr nach Spülmittel und die weiße Wand nach einem kräftigen Farbanstrich schreit. Zu Hause ist man davon überzeugt, eine ganz arme Sau zu sein - zum ewigen Studieren verdammt. In der Stabi merkt man nach ein paar Tagen, dass es noch viel ärmere Schweine gibt - Doktoranden zum Beispiel, die noch länger studieren - und das verbessert das psychische Wohlbefinden.

Natürlich ist die Stabi nicht alles im Studium. Aber ohne sie ist das Studium nichts. Ach, wäre es doch erst Oktober!

Denise Dismer

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false