zum Hauptinhalt

Gesundheit: Glücklich entwurzelt

Adrenalin ist ein schillernder Stoff. Menschheitsgeschichtlich dient es dazu, den Organismus bei Flucht oder Angriff zu Höchstleistungen zu treiben - aber auch in der akademischen Welt hat es seine Funktion.

Adrenalin ist ein schillernder Stoff. Menschheitsgeschichtlich dient es dazu, den Organismus bei Flucht oder Angriff zu Höchstleistungen zu treiben - aber auch in der akademischen Welt hat es seine Funktion. Moshe Shokeid jedenfalls, Anthropologe aus Tel Aviv, erklärt damit seine Forschungsthemen: Wenn ihn ein Thema packt, „steigt mein Adrenalin", sagt er gerne, und lacht dabei. Ein halbes Jahr hat er jetzt in Deutschland verbracht, als DAAD-Gastprofessor an der Freien Universität, und sich über manches gewundert: „Diese Laxheit an den Unis - keine Voreinschreibungen für Kurse, keine Standardanforderungen, alle kommen und gehen, wie es ihnen passt - das widerspricht so ganz unseren Vorurteilen über die Deutschen. Und dass sich die Leute hier beim ersten Sonnenstrahl nackt in den Park legen ... Das wäre in New York oder Tel Aviv nicht möglich."

Aber trotz aller Merkwürdigkeiten, die er im Lande der Germanen beobachtet hat: Sein Adrenalinpegel ist nicht in die Höhe geschnellt. „Im Moment warte ich noch auf eine Gruppe, ein Phänomen, das mich faszinieren würde. Interessant finde ich die Frage, wie die jüngeren Deutschen mit der Nazi-Vergangenheit umgehen. Aber um das zu erforschen, müsste ich Deutsch können." Für ihn selbst ist der Holocaust nicht Teil der Familiengeschichte: Shokeids Eltern wanderten schon in den Zwanzigern aus Polen beziehungsweise Litauen nach Israel ein, zu Hause wurde Hebräisch gesprochen.

Was den 65-Jährigen, der in Jerusalem Soziologie studierte und in Manchester in Sozialer Anthropologie promovierte, wirklich interessiert, das sind: „Gruppen, für die die Identität eine existenziell wichtige Frage ist". Er hat sich daher in seinem Anthropologen-Leben vor allem mit religiösen und anderen Minderheiten beschäftigt: zuerst, in den siebzigern, mit den Arabern im israelischen Städtchen Yaffa, dann mit marokkanischen Juden, die nach Israel einwanderten, mit israelischen Emigranten in New York und später mit homosexuellen Juden in New York, die eine eigene Synagoge haben und dort schon 1972 die erste schwule Hochzeit feierten. „Am Anfang waren das noch Veranstaltungen nur für Schwule, die Familie blieb draußen, und die Stimmung war eher ironisch. Heute wird, gerade bei den lesbischen Hochzeiten, auch die Familie eingeladen, man pflegt jüdische Hochzeitsrituale."

Und wie blickt der Anthropologe Shokeid auf sein eigenes Land - mit dem distanzierten Blick des Forschers oder dem des Bürgers, dessen zwei Söhne in Tel Aviv jederzeit Opfer eines Anschlags werden könnten? „Weil ich Anthropologe bin, versuche ich die Palästinenser zu verstehen - auch wenn ich Selbstmordattentate verurteile und ihren Ehrenkodex nicht nachvollziehen kann", erklärt er. „Sie haben ja eine ganz andere Art, mit Konflikten umzugehen, als Europäer oder Israelis: Sie lehnen es ab, Kompromisse zu schließen, weil sie das als Gesichtsverlust betrachten. Das habe ich schon bei meinen Feldforschungen unter Arabern in Yaffa in den siebziger Jahren schwer verstehen können."

Shokeids Stimme klingt sachlich, wenn er über die Palästinenser spricht; sie verhärtet sich jedoch schlagartig, sobald die Rede auf die jüdischen Siedler kommt. Dann ist von anthropologischer Distanz nichts mehr zu spüren, nur noch Ärger auf „diese Irrationalität, diese Sturheit, diese Ideologie".

Solche Leute verstehen? „Nein, sie gehören zu meinem eigenen Volk, da kann ich nicht ruhig bleiben, das regt mich zu sehr auf. Die Siedlungen sind unmoralisch und ungerecht." So sehr das Adrenalin hörbar steigt, wenn er über sie spricht: Als Forschungsobjekt kommen die Siedler nicht in Frage.

Die Menschen, über die Shokeid forscht, unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt von ihm selbst: Die Frage der Identität, der Wurzeln, fasziniert ihn zwar, aber nicht, weil er darin eigene Probleme wiedererkennt. „Die Schwulen in New York hatten eine sehr kluge, lesbische Rabbinerin, und es war für sie wichtig, ihre Predigten zu hören. Ich dagegen habe nicht das Bedürfnis, dass mir jemand etwas über Moral erzählt. Ich habe keine Sehnsucht nach Wurzeln, nach fester Gemeinschaft." Die schwierige Freiheit des Geistesmenschen? „Im positiven Sinne entwurzelt", nennt Shokeid das. Und schließt: „Ich weiß, welchen Preis man dafür bezahlt, verwurzelt zu sein." Dorothee Nolte

NAME

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false