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Gesundheit: Häusliche Jäger: Warum wurde der Mensch sesshaft?

Entscheidend für das Aufstreben der menschlichen Gesellschaft war der Übergang von einer Jäger- und Sammlergemeinschaft zu einer sesshaften Kultur der Ackerbauern. Für den amerikanischen Evolutionsbiologen und Pulitzerpreisträger Jared Diamond, Autor des Buches "Arm und Reich", steht fest: Mit der Landwirtschaft schuf der Mensch am Ende der letzten Eiszeit die Grundlage der modernen Zivilisation.

Entscheidend für das Aufstreben der menschlichen Gesellschaft war der Übergang von einer Jäger- und Sammlergemeinschaft zu einer sesshaften Kultur der Ackerbauern. Für den amerikanischen Evolutionsbiologen und Pulitzerpreisträger Jared Diamond, Autor des Buches "Arm und Reich", steht fest: Mit der Landwirtschaft schuf der Mensch am Ende der letzten Eiszeit die Grundlage der modernen Zivilisation.

In der Tat gehörte die enge Verbindung von Ackerbau, Sesshaftigkeit und städtischer Zivilisation bislang zu den Lehrbuch-Weisheiten der Archäologie: Weil nomadisierende Jäger- und Sammler-Gruppen vor knapp 10 000 Jahren begannen, wilde Pflanzen anzubauen, junge Wildtiere zu zähmen und zu züchten und sesshaft zu werden, schufen sie die ersten Siedlungen. Nahe dem heutigen Jericho gründeten sie die bislang älteste bekannte Ansiedlung; vor rund 10 500 Jahren hatte diese sich zu einem kleinen Dorf entwickelt.

Die mit knapp 9000 Jahren älteste stadtähnliche menschliche Gemeinschaft wurde in den 60er Jahren im türkischen Catal Hüyük in der heutigen Provinz Konya ausgegraben. Diese verwinkelte stadtartige Großsiedlung aus Lehmziegeln, in der schätzungsweise 10 000 Menschen lebten, wurde zum Symbol einer einzigartigen, den Ackerbau und die Stadtkultur verbindenden "neolithischen Revolution". Daraus entstanden später, vor knapp 5500 Jahren, die ersten Hochkulturen wie Uruk in Mesopotamien.

Doch wie es mit bekannten Dingen oft geht: Sie halten genauer Überprüfung nicht stand. Weil Funde aus dieser Phase der Menschheitsgeschichte noch immer lückenhaft sind, vermögen neue Grabungen und Techniken scheinbar gesichertes Wissen schnell über den Haufen zu werfen. In jüngster Zeit entwerfen Archäologen ein neues Bild jenes entscheidenden Übergangs, der uns erst zu dem machte, was wir heute sind: Stadt- und Kulturwesen.

Jüngste Ausgrabungen im anatolischen Catal Hüyük sowie an anderen Siedlungsplätzen vor allem im Nahen Osten widerlegen die These, dass Stadtanlagen sowie die Domestikation von Ackerpflanzen und Wildtieren zwei Seiten ein und derselben Münze sind. Die "neolithische Revolution" des inzwischen verstorbenen australischen Prähistorikers Gordon Childe gab es nicht, behauptet neuerdings eine junge Gilde vor allem anglo-amerikanischer Archäologen.

Die Grabungen zeigen, dass die jungsteinzeitlichen Bewohner etwa von Catal Hüyük in erheblichem Maße von der Jagd lebten. Offenbar ließen sie sich nicht wegen des Ackerbaus, sondern aufgrund eines noch immer rätselhaften kulturellen Motivs in Siedlungen nieder.

Die Grabungen von Catal Hüyük

Seit der Archäologe James Mellaart 1958 Catal Hüyük entdeckte, galt sein Fund als archäologische Sensation und älteste bekannte Stadt. Während der mehr als tausendjährigen ununterbrochenen Besiedlung hatten die ersten Städter auf mehr als 12 Hektar eine 20 Meter hohe Siedlung geschaffen. Noch immer die größte menschliche Ansiedlung ihrer Zeit, hat Catal Hüyük bis heute trotz weiterer Funde im Nahen Osten nichts von seiner Bedeutung eingebüßt. Im Gegenteil: Seit Anfang der 90er Jahre hat dort ein Team um Ian Hodder von der Cambridge Universität und Ruth Tringham von der Universität von Kalifornien in Berkeley mindestens 12 aufeinander folgende Siedlungsschichten freigelegt und der relativ jungen archäologischen Disziplin der Mikromorphologie zu ersten Erfolgen verholfen.

Die Bedeutung dieser Siedlung erschließt sich oft genug erst beim Studium der Detailfunde unter dem Mikroskop. Doch je genauer der Blick, desto langsamer gehen die Forschungen voran. Kaum mehr als zwei Häuser werden derzeit pro Grabungssaison freigelegt. Es sind die Begleitfunde dieser Grabungen, die zeigen, dass der Ackerbau in Catal Hüyük nicht sehr fortschrittlich war und dass die vermeintlich erste Stadt weder Wiege noch Zentrum jungsteinzeitlicher Viehzucht war.

Die Bewohner hatten sich entlang eines regelmäßig über die Ufer tretenden Flusses angesiedelt. In den Feuchtgebieten wuchsen Gras- und Getreidearten, darunter Weizen und Gerste. Doch fehlen die Hinweise darauf, dass die Getreidekörner damals bereits zu Brot gemahlen wurden. Und der Vergleich von Knochenfunden wilder mit später domestizierten Rindern ergab, dass Catal Hüyük nicht die Wiege der Rinderzucht war.

Trotz der Einwohnerzahl war Catal Hüyük kaum mehr als ein übervölkertes Dorf. Ob Stadt oder Dorf ist für Archäologen mehr als eine Frage der Masse. Während es in Uruk dank der Überschüsse einer funktionierenden Landwirtschaft einigen Bewohnern möglich war, sich als Künstler oder Priester von den Bauern der Umgebung "aushalten" zu lassen, existierte dieses Sozialsystem in Catal Hüyük noch nicht.

Typisches Kennzeichen eines Dorfes im Unterschied zur Stadt ist, dass Bauern darin leben. In Catal Hüyük ergaben die jüngsten Forschungen keine Anzeichen für echte Arbeitsteilung. Zwar weisen die Häuser denselben Grundplan auf. Mikroskopische Analysen des verwendeten Lehms und anderer Baumaterialien belegen allerdings, dass keiner dem anderen gleicht. Bei Arbeitsteilung und einer Art Maurer-Gilde wäre das Gegenteil zu erwarten.

Offenbar haben Familienclans nebeneinander gesiedelt, ohne eine neue Kaste auszubilden oder gemeinsam genutzte Einrichtungen - wie etwa Tempel - als ein weiteres Kennzeichen echter urbaner Zentren zu erbauen. Diese erweiterten Familien, die als Gruppen in vier oder fünf Häusern zusammen siedelten, sind die Grundeinheit der dezentralisierten Lebensgemeinschaft von Catal Hüyük.

Der fruchtbare Halbmond

Rätselhaft ist aber, warum die schätzungsweise wenigstens 2000 Familien sich nicht kontinuierlich in der weiten fruchtbaren Umgebung ausgebreitet haben, sondern auf engstem Raum zusammengedrängt lebten. "Erst wenn wir das religiöse Leben und soziale Geflecht dieser Ansiedlung zu entziffern gelernt haben, werden wir Catal Hüyük verstehen", meint Ian Hodder. Er glaubt, dass der so genannten neolithischen Revolution eine kulturelle Evolution und mentale Transformation des Menschen vorausgegangen ist. Nicht Ackerbau und Viehzucht ließen Menschen im schmalen Streifen des "Fruchtbaren Halbmondes" Städte gründen; vielmehr war es eine neue Kultur religiöser Praktiken, verwoben mit künstlerischem Schaffen, das sich an den Wandmalereien in Catal Hüyük dokumentiert.

Inzwischen wissen Prähistoriker, dass dauerhafte menschliche Siedlungen mehrmals unabhängig voneinander in vielen Teilen der Erde entstanden sind: im Nahen Osten, in China sowie in Mittel- und Südamerika. Dass der aufkommende Ackerbau zeitlich mit den ersten Siedlungen zusammenfiel, erschien Forschern früher mehr als zufällig. Doch die angebliche zeitliche Korrelation begründet keine Kausalität. Zumal Siedlungen an vielen Orten der Erde tatsächlich oft erst tausende Jahre nach der Erfindung des Ackerbaus entstanden.

Neue Funde überall in den bekannten neolithischen Siedlungszentren verlegen den Beginn von Ackerbau und Viehzucht immer häufiger in die Zeit zwischen 13 000 und 10 000 Jahren. Analysen winziger Pflanzenfossilien zeigen, dass der früheste Zeitpunkt der Domestikation von Ackerpflanzen - Getreide im Nahen Osten, Reis in China, Kürbis in Equador und schließlich Mais in Amerika - tausende Jahre früher als bislang angenommen lag. Selbst so unwahrscheinliche Orte wie der tropische Regenwald Südamerikas, aus dem die Wildformen von Maniok und Yams stammen, waren möglicherweise frühe Zentren der Pflanzenzüchtung.

Offenbar sorgten die ersten Farmer mit ihren Produkten für einen Ausgleich an Nahrungsmitteln, als viele jagbare Wildtiere am Ende der letzten Eiszeit verschwanden und einstige Jäger- und Sammler-Kulturen weltweit zu neuen Strategien zwangen. Diamonds These, dass Klima und Geographie über das Schicksal der Gesellschaften entschieden, findet hier ihre Bestätigung.

Die Umwelt am Ende der Eiszeit ließ die angebliche "neolithische Revolution" zu einer langen Phase komplexer Veränderungen werden, während der sich der Mensch allmählich vom Jäger und Sammler zum Ackerbauern und Städter wandelte. In einer Art Kettenreaktion hat dieser Übergang schließlich vor allem in Eurasien, nicht aber den tropischen Ländern der Dritten Welt, etliche wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklungen nach sich gezogen, der wir die Zivilisation und Technologien der Industrienationen verdanken.

Matthias Glaubrecht

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