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Gesundheit: „Keine Zivilisation ohne Mathematik“

Was Mathe spannend macht: Didaktiker Jürg Kramer erklärt, wie man Schüler für das Fach begeistert

Herr Kramer, warum ist Mathematik bloß so langweilig?

Die Frage führt in die Irre. Mathematik ist spannend und steht mitten im Leben. Das muss man nur stärker zeigen.

Anscheinend gelingt das nicht richtig. Viele Menschen erzählen, sie hätten unter ödem Mathematikunterricht gelitten.

Auch in anderen Fächern kann Unterricht öde sein. Vielleicht war es bei Mathematik in der Vergangenheit öfter der Fall. Denn Mathematik ist nun mal eine Wissenschaft, die man nicht einfach so konsumieren kann. Man muss bereit sein, sich zu konzentrieren.

Müssen Lehrer Entertainer sein, um die Schüler motivieren zu können?

Der Lehrer sollte spannenden Unterricht machen – mit Witz und Humor. Das darf auch mal doppeldeutig sein. Es wäre aber gefährlich, den Kasper zu spielen.

Wie können Lehrer lernen, den Unterricht spannend zu machen?

Der Nutzen von Mathematik lässt sich mit aktuellen Beispielen deutlich machen. Etwa indem man ausrechnet, wie gut sich die Entwicklung der Börse vorhersagen lässt oder wie wahrscheinlich es ist, dass Epidemien ausbrechen. Unser Institut bietet Kurse an, in denen Lehrern kreative Methoden vermittelt werden.

Wie kann man Kinder erreichen, die viel vorm Fernseher sitzen und konsumieren?

Kinder brauchen Freiräume, um selbst aktiv werden zu können. Der Lehrer sollte keine Einheitslösung präsentieren, sondern die von den Schülern erarbeiteten Lösungen zusammenführen. Manches sieht auf den ersten Blick wie Quatsch aus. Aber man muss das genau hinterfragen. Es ist vielleicht nicht die Lösung, aber eine Idee, die in eine vernünftige Richtung führt.

Heißt das, dass Mathematik nicht immer eine eindeutige Lösung hat?

Es gibt Aufgaben, die haben eine genau bestimmte Lösung, und die muss man finden. Aber auch da ist der Weg nicht unbedingt vorgegeben. Dann gibt es offene Aufgaben ohne eindeutige Lösung.

Welche beispielsweise?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Beschleunigung eines Autos darzustellen. Man kann eine Gleichung hinschreiben. Man kann es aber auch grafisch darstellen, indem man die Geschwindigkeit über die Zeit aufträgt.

Wozu braucht der Normalbürger heute überhaupt Mathematik? Würden nicht ein paar Grundkenntnisse ausreichen. Damit könnte man den Kassenbon oder den Gehaltszettel kontrollieren. Den Rest könnte man doch den Spezialisten überlassen.

Das würde zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft führen. Ein großer Teil der Bevölkerung wäre in mathematischer Sicht unmündig. Die Spezialisten würden eine elitäre Schicht bilden. Mathematik ist aber in gewissem Sinne klassenunabhängig.

Woran zeigt sich das?

Es gibt immer wieder geniale Mädchen und Knaben. Unabhängig vom Bildungsgrad der Eltern bringen diese Kinder einfach eine große mathematische Begabung mit. Mit entsprechender Förderung werden sie sehr gute Mathematiker.

Wie wirkt sich das aus?

Es gibt Prognosen, etwa vom FU-Präsidenten Dieter Lenzen, dass künftige Generationen stark naturwissenschaftlich orientiert sein werden. Und alles, was mit Naturwissenschaften zu tun hat, braucht eine mathematische Beschreibung. Um unsere Zivilisation erfolgreich weiterzuentwickeln, bedarf es eines enormen Schubs an naturwissenschaftlich gebildeten Kräften.

Haben die mathematischen Erkenntnisse in den letzten Jahrzehnten zugenommen?

Es gab noch nie so viel mathematischen Output. Man kann sogar von einem Jahrzehnt der Mathematik sprechen.

Und die Kenntnisse der Schüler?

Die Kenntnisse werden nicht schlechter. Sie sind aber regional sehr unterschiedlich, sowohl innerdeutsch wie auch europäisch und sogar weltweit. Die Kinder entwickeln neue Fertigkeiten, die durchaus für Mathematik gewinnbringend sind. Kenntnisse durch den Umgang mit Computern in Informatik können Interesse an der Mathematik wecken.

Wie sind derzeit die Berufsaussichten für Mathematiker?

Die werden immer besser. Auch Mathematiklehrer sind sehr gefragt. Versicherungswesen, Finanzmathematik, Informatik, Biologie, Chemie, Lebenswissenschaften oder Medizin, all diese Bereiche brauchen Mathematiker.

Braucht man auch Mathematiker, um Computeranimationen und virtuelle Welten im Internet herstellen zu können?

Das trifft für den ganzen Bereich der Visualisierung zu, auch für die Medizin. Chirurgen können sich so virtuell auf Operationen vorbereiten.

Warum tagen jetzt Mathematiker und Mathematikdidaktiker erstmals gemeinsam?

Früher war alles in der Deutschen Mathematiker Vereinigung angesiedelt. In den 60er Jahren gab es dann Konflikte wegen der sehr abstrakten Mathematik. Diese war zwar nützlich für die Theorie, wurde dann aber auch in die Schulen getragen.

Meinen Sie die Mengenlehre?

Genau. Man rechnete nicht mehr mit Zahlen sondern auf Teufel komm raus mit der Mengenlehre. Man lernte viele abstrakte Dinge, aber nicht mehr das kleine Einmaleins. Da haben sich Mathematiker und Mathematikdidaktiker in die Haare bekommen. Die Didaktiker haben sich dann vor rund 40 Jahren abgespalten. Jetzt hat man sich wieder ein wenig angenähert. Denn zur Ausbildung des Lehrers gehören nun einmal fachwissenschaftliche und didaktische Aspekte, die miteinander verzahnt werden sollten. Das hat dazu geführt, dass man im Rahmen dieser Jahrestagung zusammen geht.

Warum wurde gerade Berlin als Tagungsort gewählt?

Berlin glänzt mit drei international renommierten Mathematik-Instituten. Herausragend sind zudem das Forschungszentrum „Matheon“ sowie die Graduiertenschule „Berlin Mathematical School“.

Was hat Sie gereizt, den Kongress zu organisieren?

Ich bin sowohl Mathematiker als auch Didaktiker und habe versucht, die Zusammenarbeit der beiden Richtungen zu verstärken. So hat man mich gefragt, ob ich den Kongress organisieren will. Wir haben jetzt mehr als 1000 Teilnehmer. Darüber bin ich sehr glücklich.

Das Gespräch führte Paul Janositz.

Jürg Kramer (50) organisiert die Mathematiker-Jahrestagung in Berlin. Nach der Habilitation an der ETH Zürich wurde er 1994 Professor für „Mathematik und ihre Didaktik“ an der HU Berlin.

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