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Gesundheit: Mitten im Leben

Menschen mit Behinderung werden oft ausgegrenzt, auch von Vermietern. Jetzt hat die Lebenshilfe ein Wohnprojekt in Kreuzberg eröffnet. Ein Besuch.

Christels Schritte werden schneller, gleich ist sie zu Hause. Sie zieht den Schlüssel aus ihrem kleinen blauen Stoffbeutel und schließt die Haustür auf. Ihr Mitbewohner Dieter Körner ist kurz stehen geblieben, jetzt läuft er ihr langsam hinterher. Seine Gedanken stecken schon wieder in einer anderen Zeit fest. Christel, die ihren Nachnamen lieber nicht in der Zeitung lesen will, öffnet die Wohnungstür, Dieter Körner erinnert sich an seinen Freischwimmer, erzählt, dass er früher im Sommer oft baden gegangen ist. Dann geht der 76-Jährige in sein Zimmer, setzt sich auf sein Bett, und spricht für einen Moment über die Gegenwart: „Schön ist es hier.“ Ein paar Sekunden später fällt ihm auf, dass Christel weitergelaufen ist. Er seufzt, schiebt die Wintermütze auf seinem Kopf zurecht und geht hinüber zu seiner Mitbewohnerin.

Abbas Djalilehvand hat die beiden auf dem kurzen Weg vom Büro der Lebenshilfe bis zu ihrer eigenen Wohnung begleitet. Über diese Wohngemeinschaft freut er sich ganz besonders. Denn die Demenzpatienten – Christel ist in einem frühen Stadium, bei Dieter Körner ist die Krankheit fortgeschritten – hätten stationär untergebracht werden müssen, wenn sie diese Wohnmöglichkeit nicht gefunden hätten. Viele Menschen fallen nach der Diagnose Demenz in ein Loch. „Aber Christel und Dieter sind durch das Zusammenleben aufgeblüht und ergänzen sich.“ Zwischen sechs und 22 Uhr kommen Betreuer zu ihnen in die Wohnung, oder die beiden laufen hinüber zum Treffpunkt der Lebenshilfe.

Abbas Djalilehvand leitet bei der Lebenshilfe die Ambulanten Dienste in Kreuzberg, die seit September auch das Projekt im Wohnpark am Jüdischen Museum betreiben. Auf dem Gelände, das anlässlich der Internationalen Bauausstellung von 1987 entstand, hat die Lebenshilfe insgesamt sechs Wohngemeinschaften eröffnet, die sich auf verschiedene Häuser verteilen. Die 21 Bewohner kommen aus drei Generationen, sie sind zwischen 18 und 76. Ur-Berliner sind darunter und Menschen, die woanders geboren wurden, etwa in Spanien.

Christels Zimmer liegt dem von Dieter gegenüber. Ihre Möbel sind weiß, ein großer Stoffhund schaut vom Schrank herunter, über dem Bett hängt ein Bild von einem Collie. Eine schmale Tür führt ins Bad, das behindertengerecht eingerichtet ist, in den nächsten Wochen wird noch ein Badewannenlifter eingebaut. „Am tollsten ist aber der da“, sagt die 73-Jährige, sie zeigt nach draußen auf den großen Balkon, auf den gerade die Sonne scheint.

Bis auf die beiden Maisonette-Wohnungen sind alle Räume barrierefrei. „Zum Glück ist man von diesen großen WGs mit sechs bis acht Bewohnern weggekommen“, sagt Abbas Djalilehvand später, in seinem Büro im Treffpunkt der Lebenshilfe. Die Anlaufstelle ist von sechs bis 22 Uhr geöffnet. Wer nicht zu Hause essen will, kann das hier tun. Im Aufenthaltsraum sitzen zwei Bewohner, neben dem Esstisch steht ein Kicker.

Auch Johannes Geffken hat sich bei der Lebenshilfe beworben und einen Platz in einer WG am Jüdischen Museum bekommen. Geffken ist vor ein paar Wochen zurück in die Stadt gekommen, aus der er als kleiner Junge nach Brandenburg gezogen war. Der 21-Jährige hat ADHS und Lernschwächen, seine Mitbewohner Patrick und Sjard haben ebenfalls Lernschwierigkeiten. Johannes und Patrick sitzen auf dem Sofa, das sie wie alle Möbel im Wohnzimmer gemeinsam ausgesucht haben. „Bei Männern geht das ganz schnell“, sagt er, und Abbas Djalilehvand erinnert sich: „Die haben sich im Möbelhaus alle einfach draufgesetzt, dann war das klar.“ Johannes ist Frühaufsteher, er arbeitet von halb acht bis 14.30 Uhr als Reinigungskraft. Patrick überlegt im Moment noch, was er beruflich machen möchte. Sjard arbeitet in einer Werkstatt – im Küchenbereich. „Zum Glück wäscht er auch zu Hause sehr, sehr gerne ab“, sagt der Betreuer Simon Schulze. In ein paar Wochen bekommen sie noch zwei Mitbewohner.

Nach Feierabend und „dem Chillen“ schauen sich die Jungs ihren neuen Kiez an oder gehen in die Clubs – was 21-Jährige eben so tun. „Wir genießen das Flair, die Abwechslung und die Internationalität“, sagt Johannes. Betreuer Simon hilft ihnen dabei, ihren Alltag zu organisieren, er plant mit ihnen, wer wann einkauft, kocht und putzt. Die Bewohner haben Glück gehabt: Sie wohnen zentral und sind gut versorgt. Dass es in den Innenstadtbezirken immer schwieriger wird, überhaupt noch bezahlbare Wohnungen zu finden, weiß man natürlich auch bei der Lebenshilfe. Wo sich immer mehr Wohnungsbesichtigungen in Casting-Veranstaltungen verwandeln, da ist es für Menschen mit Behinderung oft fast unmöglich, auf dem freien Markt überhaupt noch eine Wohnung zu bekommen.

Dass in dieser Gegend Räume frei wurden, hat das Team über einen Handwerker erfahren. „Der Vermieter unterstützt uns hier sehr gut“, sagt Djalilehvand, der auch mit ein paar anderen Vermietern in Kreuzberg regelmäßig zusammenarbeitet. Darüber hinaus sei es eine große Herausforderung, Hausbesitzer dazu zu bewegen, der Lebenshilfe Wohnungen zu vermieten. „Man muss sehr viel Überzeugungsarbeit leisten.“ Und auch auf die Nachbarn offen zugehen. Vor ein paar Wochen haben sich die neuen Bewohner auf einem Hoffest vorstellt. Das habe geholfen, Vorurteile abzubauen. Im nächsten Jahr will Abbas Djalilehvand das Fest unbedingt wiederholen. Und vielleicht wird Christel dann auch wieder eine kleine Rede halten.

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