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Gesundheit: Nicht die Schule – die Politik ist der Skandal

Berlin hat keinen Platz für Gymnasiasten. Eine Erwiderung

Am 7. Februar berichtete Harald Martenstein an dieser Stelle unter der Überschrift „Suche Schule für mein Kind“ über seine Erlebnisse auf der Suche nach einem Gymnasium für seinen Sohn. In diesem Beitrag antwortet der Leiter des Berliner Canisius-Kollegs.

Der Tagesspiegel hat aus der Perspektive eines von der Berliner Schulpolitik betroffenen Vaters einen Artikel über seine Erfahrungen auf der Suche nach einem Gymnasium veröffentlicht. Sie sind bedrückend. Ich habe den Text aus der Perspektive eines von der Berliner Schulpolitik betroffenen Gymnasiums gelesen, das sich alljährlich mit der absurden Aufgabe herumschlagen muss, aus zirka 300 fristgerecht eingegangenen Bewerbungen die „geeigneten Kinder“ für 90 Plätze aussuchen zu sollen.

„Geeignet?“ Nach meiner Erfahrung sind die allermeisten Kinder, die sich zusammen mit ihren Eltern bei uns melden, geeignet für das Gymnasium. Wir müssen also – sagen wir: aus 280 geeigneten Kindern die 90 „geeigneten“ auswählen. Was liegt da näher, als in die Falle zu tapsen und aus den „geeigneten“ die „geeignetsten der geeigneten“ herausfiltern? Die „Einskommanuller“ zum Beispiel.

Aber sind die „Einskommanuller“ wirklich die geeignetsten? Ich glaube es nicht. Ich war übrigens selbst kein „Einskommanuller“, nicht einmal ein „Zweikommanuller“. Mit solchen Kriterien im Kopf kann man weder Aufnahmegespräche führen noch Schule machen; so kann man eben einfach mit Kindern nicht umgehen, und zwar die ganze Schulzeit lang nicht.

Es bleibt also die bittere Tatsache, die ich gemeinsam mit dem Autor Martenstein beklage: Die Berliner Schulpolitik verbaut einer großen Zahl von „geeigneten“ Kindern jedes Jahr neu den Zugang zum Gymnasium. Sie will eben einfach nicht, dass die Kinder aufs Gymnasium gehen. Da haben wir sie wieder, diese typische Berliner-bildungspolitische-Obrigkeitsdenke. Bildung ist Staatssache, und der Staat bestimmt, was am besten für die Kinder ist. Basta.

Bildungstheoretiker denken sich an grünen Tischen bildungspolitische Landschaften aus und schimpfen auf die Wirklichkeit, wenn sie anders ist. Kommunikationstheoretisch nennt man so etwas „Geisterfahrersyndrom“. Die Berliner Bildungspolitik hat ein Problem mit Realität. Das tut auf beiden Seiten dauernd weh.

Es ist natürlich für eine katholische Schule wichtig zu erfahren, warum sich Eltern gerade für eine katholische Schule interessieren – und ob es gerade das Katholische, das Christliche ist, was sie an der Schule reizt, oder „nur“ ihr Gymnasiums-Charakter. Martenstein gesteht das ja auch zu. Wichtig ist aus meiner Perspektive, dass seitens der Schule diese Frage an die Eltern gestellt wird, nicht an die Kinder. Denn religiöse Gesinnung kann in keinem Falle ein Kriterium für die Bewertung eines Kindes durch die Schule sein, auch nicht durch eine katholische Schule. Vielleicht werde ich an dieser Stelle bei kirchlichen Leserinnen und Lesern Stirnrunzeln hervorrufen, aber das nehme ich gern in Kauf.

In welchem Sinne verstehen wir als christlicher Schulträger Schule als „missionarisch“? Immer wieder machen wir die Erfahrung, dass Kinder nicht-christlicher oder nicht-kirchlicher Familien durch die Teilnahme an Gottesdiensten und Religionsunterricht an unserer Schule „angesteckt“ werden: Es entsteht durch Berührung mit religiöser Praxis bei ihnen der Wunsch, auch selbst getauft zu werden, an der Kommunion teilnehmen zu dürfen, beten zu lernen. Wir freuen uns darüber, wenn das geschieht; wir machen Eltern darauf aufmerksam, das so etwas mit ihren Kindern auf unserer Schule passieren kann; aber wir nehmen die Kinder nicht an unserer Schule auf, damit es geschieht.

Kinder und Jugendliche (und eigentlich alle Menschen) sind an diesem Punkt nämlich zu Recht scheu wie Rehe: Wenn man auf sie zielt, spüren sie es und laufen weg – neun Jahre lang innerlich und nach dem Abitur endgültig. Das ist ja gerade das Elend einer Kirche, die sich in diesem strategischen Sinn „missionarisch“ betätigt. Sie tritt den Menschen nicht absichtslos entgegen, und genau deswegen kommt es nicht zu einer wirklichen Beziehung. Die Menschen spüren die Absicht und sind verstimmt.

So funktioniert es eben bei der Weitergabe von Glauben gerade nicht; und auch in der Schule nicht. Die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler hat eine eigene Würde. Die Würde des anderen legt mir die Pflicht auf, ihn nicht für meine eigenen Interessen zu instrumentalisieren. Sie verbietet mir sogar, stellvertretend für sie oder ihn zu definieren, was seine Interessen sind, um ihn mit „sanftem Druck“ dahin zu kriegen. Das Sanfte des Drucks ist ja im übrigen nur die Verschleierung der Gewalt hinter der netten Fassade.

Und schließlich muss diese Würde ganz besonders gewahrt und geschützt werden bei Kindern, weil sie gegenüber der Schule strukturell in der schwächeren Position sind. Schule machen, um Kinder zu „missionieren“ – und über die Kinder vielleicht auch noch die Eltern? Kinder aufnehmen für den Deal Freigabe zum Missionieren gegen Bildung? Nein.

Die Berliner Schulpolitik ist in der Tat ein Skandal. In diesem Jahr geht es wieder los. Wer schon ein älteres Kind auf der Schule hat, hat einen Geschwisterbonus. Der Rest wird wieder Hauen und Stechen sein – Tränen, Enttäuschung, bitterböse Briefe, Sitzstreiks vor Direktorenbüros, frustrierte Kinder, zerbrochene Beziehungen, „Einskommanull“-Belegschaften (oh Graus, ich kann’s einfach nicht glauben, dass andere Gymnasien so etwas ernsthaft durchführen).

Geisterfahrer sind gefährlich für die entgegenkommenden Autos, zumal, wenn der Geisterfahrer die anderen für die Geisterfahrer hält. Am besten, wir lassen uns vom Geisterfahrer nicht dividieren und verstärken dafür unsere Kräfte zu seiner Bändigung. Unsere Erfahrungen ermächtigen uns dazu.

Klaus Mertes

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