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Gesundheit: Schatten auf der Seele

Warum bringen sich Menschen um? Auch weil das Gehirn es will – sagen Forscher

„Es war um Mitternacht, an einem Samstag im Juli – die Jahreszeit, in der die Selbstmordrate in unseren Breiten die Höchste ist, wie ich später mit Erstaunen in Erfahrung brachte.“ So beginnt Carol Ezzell ihren Bericht. „Mein Stiefvater war zu Hause, aber den Schuss hörte er nicht, weil er im Badezimmer am anderen Ende des Hauses stand und eine Dusche nahm.“ Es war Carol Ezzells Mutter, die sich erschossen hat.

Die Geschichte steht in der aktuellen Ausgabe der US-Wissenschaftszeitschrift „Scientific American“. Darin geht Ezzell vor allem einer Frage nach: Warum?

Jedes Jahr, so schätzt die Weltgesundheitsorganisation WHO, bringen sich eine Million Menschen um. In Deutschland sind es um die 12 000 Menschen – eine offizielle Zahl, niemand kennt die Dunkelziffer.

Warum? Lässt sich das nachvollziehen? Hat die Wissenschaft eine Antwort darauf, warum Menschen so verzweifelt sein können, dass sie keinen anderen Ausweg mehr sehen als den eigenen Tod?

Die meisten Fragen bleiben nach wie vor offen. Dennoch sind Forscher auf ihrer Suche nach dem Warum – oder vielleicht genauer: nach dem Wie – zum Teil auch auf Antworten gestoßen.

Biologisches Risiko

Zwei verhängnisvolle Eigenschaften haben sie dabei ausgemacht, die wohl in vielen Fällen die entscheidenden Faktoren waren, die zum Selbstmord geführt haben: Depression und Impulsivität. Beides meinen sie auch bis ins Gehirn zurückverfolgen zu können.

„Ich möchte nicht sagen, dass der Selbstmord ein rein biologisches Phänomen ist“, sagt Victoria Arango vom New Yorker State Psychiatric Institute. „Aber es beginnt damit, dass ein biologisches Risiko zu Grunde liegt.“ Arango und ihr Kollege John Mann haben die Hirne von zahlreichen Selbstmördern untersucht und sind dabei auf ein immer wiederkehrendes Muster gestoßen.

Zunächst trennten die Wissenschaftler die beiden Hirnhälften von einander und zerlegten sie in jeweils zehn bis zwölf Blöcke. Dann schnitten sie die Blöcke in rund 160 Schnitte – dünner als ein menschliches Haar.

Der Befund: Die Hirne der Selbstmörder zeigten in dem Bereich, der direkt hinter der Stirn liegt, auffallend weniger Nervenzellen (genaue Bezeichnung des Areals: „orbitaler präfrontaler Cortex“) als bei Gehirnen von Menschen, die nicht von eigener Hand ums Leben kamen. Und die Mikroanalyse brachte noch etwas Aufschlussreiches zu Tage. Die Zahl der Transporter eines Botenstoffes namens Serotonin war drastisch hinuntergefahren – nämlich auf ein Drittel des Normalwerts. Umgekehrt waren die Andockstellen für diesen Botenstoff um 30 Prozent erhöht.

Was sich für den Laien wie Chinesisch anhört, ergab für die beiden Experten sofort einen Sinn. Serotonin gilt als eine Art „Glücksbote“ im Kopf. Es ist einer der Botenstoffe, die „Nachrichten“ von einer Nervenzelle zur nächsten bringen. Das besondere an diesem Botenstoff ist, dass er Glücksgefühle hervorrufen kann. Zumindest: Depressionen gehen häufig mit einem Mangel an Serotonin einher. Auch Antidepressiva wie Prozac wirken stimmungserhellend, indem sie in den Serotoninhaushalt im Kopf eingreifen.

Dabei spielt der Serotonin-Transporter eine entscheidende Rolle. Sobald eine Nervenzelle ihre Signale mit Hilfe des Serotonins weitergeleitet hat, wird der Botenstoff vom Transporter wieder eingesammelt. Dann herrscht einen Moment Stille zwischen den Zellen. Fehlt das Serotonin, wie es bei einer Depression oft der Fall ist, kann man gegensteuern, indem man den Transporter blockiert. Genau das tut das Medikament Prozac. Es hemmt den Serotonin-Transporter und sorgt so dafür, dass das wenige Serotonin, das im Kopf vorhanden ist, länger aktiv bleibt, indem es nicht sofort wieder eingesammelt wird. Die Folge: Die Stimmung hebt sich.

Auch im Kopf des Selbstmörders mangelt es, so die Vermutung der Forscher, am Serotonin. So zumindest lässt sich der Rückgang der Serotonin-Transporter erklären: Das Hirn reguliert den Mangel an Botenstoff, indem es die Produktion des Transporters, der diesen Botenstoff einsammelt, drosselt. Gleichzeitig erhöht es die Andockstellen für Serotonin, um so auch noch das letzte Boten-Molekül, das da ist, zu nutzen. Eine Art Prozac-Programm der Natur. Ein verzweifelter Kompensationsversuch.

„Es gibt jede Menge Daten, die darauf hindeuten, dass Suizid und Serotoninmangel zusammenhängen“, sagt auch Ghanshyam Pandey von der Universität von Illinois in Chicago – selbst wenn das Serotonin nur ein Baustein im Puzzle ist. Ein zweiter Aspekt der Entdeckung von Arango und Mann ist bemerkenswert: Die Störung im Stirnhirn könnte zu einer folgenschweren Impulsivität der Selbstmörder beigetragen haben.

Das Stirnhirn spielt nämlich eine wichtige Rolle bei der Hemmung von Impulsen. Es sorgt dafür, dass wir nicht ungebremst unsere Affekte, etwa Aggressionen, ausleben. Ist die Funktion des Stirnhirns gestört, kann auch diese hemmende Funktion beeinträchtigt sein. Der Zusammenhang zum Selbstmord: Auch wenn es Menschen gibt, die ihren Suizid sorgfältig planen, so handeln andererseits viele aus einem verzweifelten Affekt heraus ziemlich spontan.

Und dennoch: All das heißt nicht, dass der Selbstmord ein „biologisches Verhängnis“ ist. Man weiß zum Beispiel, welchen enormen Einfluss frühe Erfahrung auf das Gehirn hat – das geht bis hin zum Botenstoffhaushalt. Schlimme Erfahrungen in der Kindheit, Vernachlässigung etwa, können einen Mangel an Serotonin im erwachsenen Hirn zur Folge haben. Das legen Tierversuche nahe.

Scheidung erhöht die Gefahr

Es gibt aber auch Erfahrungen im späteren Leben, die das Risiko für den Selbstmord nachweislich erhöhen. So verdoppelt sich die Gefahr eines Suizids bei getrennt lebenden oder geschiedenen Männern, wie eine US-Studie im Fachblatt „Journal of Epidemiology and Community Health“ an 472 000 Männern und Frauen ergab. Bei geschiedenen Frauen stieg dieses Risiko nicht dermaßen drastisch. Und verblüffenderweise lag bei Singles und verwitweten Menschen keine erhöhte Gefahr vor. Auch schwere Krankheiten können das Risiko eines Selbstmordes steigern, wie eine kürzlich im Fachblatt „British Medical Journal“ veröffentlichte Studie zeigt.

Und doch bleibt das Warum des Selbstmords letztlich ein Rätsel. Der Grund liegt nicht nur darin, dass viele Voraussetzungen und Erfahrungen zusammenkommen müssen. Sondern auch, dass diese Erfahrungen oft keinem Schema entsprechen, sondern individuell sind – wie auch die von Carol Ezzells Mutter. „Ich habe eine Kugel jener Schachtel behalten, in der sich auch die befand, die meine Mutter tötete“, schreibt Carol Ezzell. „Dieses einzelne, kalte Kügelchen aus Metall ist mir eine Mahnung daran, wie zerbrechlich das Leben ist, und welche immensen Konsequenzen eine einzige impulsive Tat haben kann.“

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