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Gesundheit: Schiitischer Zickzack

Die größte Volksgruppe im Irak schwankt zwischen Sympathie mit den iranischen Mullahs und Säkularisierung

Kurz vor dem Ausbruch des Irak-Krieges warnte der ägyptische Präsident Hosni Mubarak vor der Machtübernahme durch die irakischen Schiiten. Die arabische Welt, die sich mehrheitlich zum sunnitischen Islam bekennt, verbindet mit dem Schiitentum eine religiöse Tradition, die im Iran vorherrschend ist. Die arabischen Machthaber fürchten, dass der Iran durch die irakischen Schiiten politisch den Irak dominieren und Einfluss auf die Golfregion gewinnen könnte. Dort nämlich sind große schiitische Minderheiten beheimatet; im Irak stellen sie sogar die absolute Mehrheit der Bevölkerung. Dass die USA 1991 den Marsch nach Bagdad nicht fortgesetzt haben, verdankt sich unter anderem diesem Umstand.

Die arabischen Führer nehmen die Herrschaft Saddam Husseins oder eines anderen sunnitischen Militärdiktators in Kauf, um die Übernahme der Macht durch die irakischen Schiiten zu verhindern. Das Bild eines neuen Irak, in dem den Schiiten und den Kurden eine stärkere politische Repräsentation zukommen könnte, erschreckt einige Herrscher am Golf. Diese Haltung gehört zu den Ursachen der irakischen Tragödie, die nach dem Militärputsch von 1958 begann. Die Mehrheit der Bevölkerung wurde damals am politischen Prozess kaum beteiligt. Nach der iranischen Revolution von 1979 wurde die schiitische Gefahr in der Golfregion als noch akuter gesehen. Man fürchtete, die schiitischen Minderheiten am Golf könnten als Brückenköpfe der Revolution fungieren.

Die Ängste verstärkten sich, als im Irak und später im iranischen Exil die schiitischen Islamisten aus dem Irak Anspruch auf die Macht im Irak erhoben. Tatsächlich gelang es der Hizb al-Da’wa (Partei des Islamischen Aufrufs) in den Siebzigerjahren innerhalb der schiitischen Bevölkerung an Einfluss zu gewinnen. Das gleiche gilt die für kleinere fundamentalistische schiitische Amal- Organisation (Islamische Aktion).

Schon vor dem Ausbruch des Krieges gegen den Iran unterdrückte Saddam Hussein die schiitischen Gruppen gewaltsam. Den schiitischen Gelehrten Ayatollah Muhammad Baqir al-Sadr, den potenziellen irakischen Khomeini, richtete er hin. Damals flohen die versprengten Reste der Bewegung zu ihren Glaubensbrüdern in den Iran. Dort versuchten die Iraner nach dem Ausbruch des Krieges durch die Unterstützung der Dachorganisation der schiitischen Organisation Sciri (Supreme Council of Islamic Revolution in Irak) eine politische Alternative zum Saddam-Regime zu bilden. Zu diesem Zweck wurde auch die Bader-Division gegründet, die bei einer möglichen Eroberung des Irak an der Seite der iranischen Truppen kämpfen sollte. Bader war ein Ort auf der arabischen Halbinsel, an dem der Prophet Mohammed seine Gegner aus Mekka zur Zeit der Religionsstiftung besiegte.

Sehr rasch stellte sich heraus, dass Khomeini, der lange im irakischen Exil gelebt hatte, während des ersten Golfkrieges die Sympathien die irakischen Schiiten nicht gewinnen konnte. Die Mehrheit der irakischen Soldaten waren Schiiten, die tapfer ihr Land gegen die Iraner verteidigten. In der regierenden Baath-Partei waren die Schiiten keineswegs unterrepräsentiert.

Nach dem Krieg wurden die Schiiten durch Saddam für ihre Loyalität nicht belohnt. Im schiitischen Süden hat sich die drückende Wirtschaftskrise am schärfsten bemerkbar gemacht. Ganz zu schweigen von politischen Reformen, die eine angemessene Repräsentation der schiitischen Elite im System ermöglicht hätte. Es war daher folgerichtig, dass die Schiiten sich 1991 infolge des Kuwait-Kriegs gegen Saddam Hussein erhoben haben. Der Aufstand der Schiiten wurde furchtbar bestraft. Saddam Hussein schreckte nicht davor zurück, die heiligen Stätten der Schiiten mit Panzern anzugreifen. Der Heilige Schrein, die historische Grabstätte der ersten schiitischen Imame Ali und Hussein, wurde teilweise zerstört.

In den Neunzigerjahren setzte ein Differenzierungsprozess in den Reihen der schiitischen Opposition ein. Die Da’wa -Partei entfremdete sich von der iranischen Führung und zeigte eine deutlich arabisch-nationalistische Orientierung. Die Sciri versuchte sich vom politischen Einfluss des Iran zu befreien. Die Bader-Division war für viele Jahre praktisch ein Teil der Einheiten der iranischen Revolutionswächter. Sciri hatte nur noch eine symbolische Verbindung mit dieser Militäreinheit.

Die Sciri unter Führung Ayatollah Muhammad Baqir al-Hakim, einem Spross des ehemaligen religiösen Oberhaupts aller Schiiten, Ayatollah Muhsin al-Hakim, folgte einem pragmatischen Kurs. Die Organisation näherte sich seit 1992 stärker an die anderen Strömungen der irakischen Opposition an. Ihre Dialogbereitschaft mit der amerikanischen Regierung unter Clinton und unter Bush war der Höhepunkt des neuen politischen Kurses von Sciri. Bei mehreren Verhandlungsrunden der irakischen Opposition war Sciri nicht nur anwesend, sondern wurde von der amerikanischen Administration als eine der wichtigsten Oppositionsströmungen anerkannt.

Die Konkurrenzorganisation, die Da’wa- Partei, blieb trotz einiger Kontakte mit den Repräsentanten der amerikanischen Administration weniger kooperationsbereit. Sie versucht, die bei den Schiiten vorhandenen antiamerikanischen Gefühle in Konkurrenz zur Sciri zu gewinnen. Die Sciri dagegen verhandelte zwar als Teil der irakischen Opposition mit den USA Pläne für die Ära nach Saddam. Aber auch sie muss Rücksicht auf den Iran nehmen, um nicht als Verbündete der USA abgestempelt zu werden.

In den letzen Wochen wurde diese Zickzack-Politik sichtbar: Einerseits schickte die Sciri mit Zustimmung des Iran Teile der Bader-Division in den Nordirak, um mit den kurdischen Milizen zu operieren. Andererseits verkündete Muhammad Baqir al-Hakim, dass die Bader-Division sich nicht am gegenwärtigen Krieg beteiligen werde. Abgesehen von der sehr geringen militärischen Bedeutung der zahlenmäßig schwachen Bader-Division scheint es, dass al-Hakim alles unternehmen will, um den Eindruck zu vermeiden, seine Truppe kämpfe an der Seite der USA. Im neuen Irak wird seine Organisation nicht nur mit der Da’wa konkurrieren müssen, sondern auch gegen die schiitisch-irakischen Säkularisten.

Die schiitischen Säkularisten könnten tatsächlich eine zunehmende Relevanz erhalten. Lange war das Bekenntnis der säkular orientierten Schiiten zu ihrer quasi ethnischen Gruppe in Reihen der arabischen Nationalisten verpönt. Es galt als politischer Konfessionalismus, wenn schiitische Säkularisten die Gleichheit der Schiiten mit den arabischen Sunniten forderten.

Im Juni 2002 veröffentlichten 150 schiitische Intellektuelle das sogenannte Schiitenmanifest, in dem sie ganz deutlich die Gleichberechtigung der Schiiten forderten. Die Rechte der schiitischen Mehrheit solle in der Verfassung verankert werden. Die Intellektuellen strebten mit ihrer Forderung eine Art Konkordanz-Demokratie nach dem libanesischen Modell an, in dem die Angehörigen der ethnischen und konfessionellen Gruppen gemäß einem Schlüssel im Staat vertreten werden.

In einem wesentlichen Punkt sind sich die Schiiten aller Couleur einig: Im zukünftigen Irak wird man, gleich welche Ordnung in Mesopotamien entstehen sollte, die Schiiten nicht umgehen können. Um die Unterstützung der Sunniten zu sichern, pflegte Saddam Hussein in seinen privaten Begegnungen mit den Repräsentanten der sunnitischen Stämme zu sagen: Ich könnte der letzte sunnitische Herrscher des Irak sein. Recht könnte er haben.

Ferhad Ibrahim, geboren 1950 in Syrien, ist Professor für Politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin. Weiterführende Literatur: Konfessionalismus und Politik in der arabischen Welt: Die irakischen Schiiten, Lit-Verlag, Münster, 1997.

Ferhad Ibrahim

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