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Gesundheit: Sorge dich nicht, träume

Was hat das nächtliche Kino im Kopf zu bedeuten? Einem Hirngespinst auf der Spur

Im Jahr 1997 verlor Maria Schneider* all ihre Träume. Ein Schlaganfall unterbrach die Blutversorgung in einer kleinen Region tief hinten im Hirn, der Sauerstoff blieb aus, die Nervenzellen starben ab. Wenige Tage später, die 73-Jährige war bereits wieder auf dem Weg zur Genesung, anfängliche Sehstörungen verschwanden, da tauchte plötzlich ein seltsames Symptom auf: Die Frau träumte nicht mehr.

Das Gedächtnis, die Konzentrationsfähigkeit, die Intelligenz – nichts davon hatte unter dem Hirnschlag gelitten. Die tägliche Welt von Frau Schneider blieb unverändert. Nur nachts, wenn sie sich schlafen legte, da war die Welt nicht mehr wie zuvor. Sie war leer, blieb dunkel. Das Kino im Kopf, die bizarren Bilder waren wie ausgelöscht.

Der Verlust der Traumfähigkeit – in der Neurologie ist das Phänomen schon seit längerem bekannt. Es wird als „Charcot-Wilbrand-Syndrom“ bezeichnet und geht zurück auf die Nervenärzte Hermann Wilbrand und Jean-Martin Charcot, die in den 1880er Jahren erstmals darüber berichteten. In neuerer Zeit hat der Londoner Hirnforscher Mark Solms die Traumwelt Hunderter Patienten untersucht, bei denen Hirnteile durch Verletzungen geschädigt worden waren. Viele berichteten über einen totalen nächtlichen Blackout. Die meisten aber klagten über diverse andere Beeinträchtigungen, ein Nachlassen der Wachsamkeit etwa.

Einmalig an Maria Schneider, deren Geschichte nun im Fachblatt „Annals of Neurology“ veröffentlicht wurde, ist, dass der Frau außer ihren Träumen nichts fehlte. Damit wirft der Fall eine alte Frage neu auf: Warum träumen wir? Was hat das nächtliche Hirntheater zu bedeuten? Hat es überhaupt etwas zu bedeuten?

Ja, sagte der Entdecker des Unbewussten, Sigmund Freud. Nachts, glaubte der Wiener Nervenarzt, würden die dunklen Kräfte der Seele ihr Haupt erheben. Während wir schlummern, erwache das Schattenreich der verbotenen Lüste. Doch um unser wehrloses Ich nicht zu erschrecken und aufzuwecken, präsentiere sich dieses Schattenreich in Chiffren: Der Traum war nach Freuds Vorstellung die verkleidete Form eines verbotenen Wunsches.

Heutige Hirnforscher sehen das freilich ganz anders. Einer der prominentesten unter ihnen, der US-Psychologe Allan Hobson von der Harvard-Universität, stellte bereits 1977 die ketzerische Hypothese auf: Träume sind nichts weiter als ein Hirngespinst ohne tiefere Bedeutung. Der Hirnstamm – ein entwicklungsgeschichtlich alter, aber lebenswichtiger Teil des Gehirns, der Basisfunktionen, wie etwa die Atmung, übernimmt – neige nachts gelegentlich zu Überreaktionen. Das elektrische Rauschen aktiviere wahllos die Großhirnrinde, den jüngeren, intellektuellen Teil des Gehirns. Die Großhirnrinde gerate in Erklärungsnot, versuche sich einen Reim aus der chaotischen Erregung zu machen. Heraus kämen teilweise seltsame, teilweise kohärente Bilder im Kopf. Mit verborgenen Wünschen habe das alles nichts zu tun.

Wer hat Recht? Freud oder dessen Albtraum Hobson? Die Antwort lautet: Beide ein bisschen und keiner von beiden ganz.

Erstens. Träume sind zwar tatsächlich Hirngespinste, die zum Teil, aber nicht nur von zufälliger Aktivität abhängen. So konnte der Schlafforscher Pierre Maquet von der Universität Lüttich in Belgien mit Hilfe von Hirnscans nachweisen, dass während des Traums das limbische System, das Gefühle wie Angst und Freude hervorbringt, besonders aktiv ist. Deshalb sind unsere Träume oft so stark emotional gefärbt.

Zweitens. Ohne Bedeutung heißt nicht ohne Sinn: Viele Hirnforscher glauben mittlerweile, der Traum sei das Abbild eines äußerst wichtigen Vorgangs, der in unserem Kopf stattfindet, während wir schlummern – nämlich Lernen.

Meist träumen wir während des REM- Schlafs („Rapid Eye Movement“), bei dem sich die Augen schnell hin- und herbewegen. Beschäftigen wir uns tagsüber mit Neuem, so nimmt in der folgenden Nacht der Anteil des REM-Schlafs zu. Raubt man uns umgekehrt den REM-Schlaf, leidet das Gedächtnis.

Dabei könnte es so sein, dass während des Schlafs frisch Gelerntes von einem Zwischenspeicher im Gehirn ins Langzeitgedächtnis kopiert wird – eine Hypothese, für die es erste Befunde gibt.

So konfrontierte der Schlafforscher Maquet Probanden mit verschiedenen Aufgaben, während er mit einem Hirnscanner ihren Kopf durchleuchtete. Nachts, als die Versuchspersonen ein Nickerchen machten, warf er den Scanner noch einmal an. Da offenbarte sich: Genau jene Hirngebiete, die die Testpersonen am Tag für das Lösen der Aufgaben gebraucht hatten, leuchteten nun noch einmal auf. Es war, als würde das Gehirn das Gelernte noch einmal durchgehen, um es endgültig abzuspeichern.

„Tagsüber könnte eine solche Reaktivierung des Gehirns problematisch werden“, sagt der Lübecker Hirnforscher Jan Born. „Wir könnten das Nachspiel unserer Nervenzellen leicht mit der Realität verwechseln.“ Sprich, eine Halluzination wäre die Folge. Im Schlaf wäre das kein Problem – die Halluzination würde sich schlicht als Traum manifestieren.

Doch auch diese Theorie hat ihre Schwächen: Wenn der Traum tatsächlich das am Tage Gelernte widerspiegelt, warum kehren dann, zum Beispiel, bestimmte Angstträume, in denen wir von der Mafia verfolgt werden, immer wieder – was, bitte schön, wird dabei gelernt? Warum träumen wir stattdessen nicht von den Vokabeln, die wir am Tag zuvor gebüffelt haben?

In einem neuen Buch („13 Dreams Freud Never Had“, Prentice Hall 2004), das im November in den USA erscheint, greift auch der Traumforscher Hobson diese Idee auf. „Vielleicht geht es nicht immer darum, rein Rationales, wie Vokabeln oder Mathematik, zu lernen, sondern auch ums emotionale Lernen – um die Verarbeitung von Gefühlen“, sagt Hobson. Kehrt ausgerechnet Hobson damit zu Freud zurück? Nicht ganz: Die Gefühle, meint der Forscher, müssten zum Beispiel nicht, wie Freud glaubte, in verkleideter Form daherkommen.

Dass wir aber träumen, um Emotionen zu verarbeiten, das legen auch die Versuche der Chicagoer Psychiaterin Rosalind Cartwright nahe. Ihr Credo: Wer in schlechter Stimmung ins Bett geht, wacht öfters gut gelaunt wieder auf. Der Schlaf wirkt wie eine Psychotherapie.

Die Forscherin nahm die Träume von zwei Gruppen von Menschen unter die Lupe, die gerade eine Ehescheidung hinter sich hatten und unter Depressionen litten. Bei den einen waren die Träume bis in den frühen Morgen hinein zutiefst unangenehm. Im Verlauf der Nacht änderte sich nichts. Die Traumtherapie blieb bei ihnen schlicht aus. Entsprechend schwer fiel es ihnen, die Depression in den Griff zu bekommen.

Andere dagegen schienen ihre Depression regelrecht wegzuträumen. Am Anfang der Nacht bestanden ihre Träume oft aus hochemotionalen, belastenden Episoden. Gegen Morgen hin jedoch wurden sie immer leichter und angenehmer. Bei dieser Gruppe hatte sich die Depression ein Jahr später deutlich gelindert.

„Der Traum von gestern ist die Wirklichkeit von heute und morgen“, sagte die Kampfsportlegende Bruce Lee. Da kann die Wissenschaft nur zustimmen.

* Name von der Redaktion geändert

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