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Gesundheit: Turbolader fürs Gehirn

Forscher arbeiten an neuen Rezepten gegen den Schlaganfall – mit von der Partie ist ein alter Bekannter: Viagra

„Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“: Eigentlich hatte Michail Gorbatschow 1989 seinen Spruch auf politische Versäumnisse gemünzt. Noch treffender aber ist diese Aussage beim Schlaganfall, der hierzulande dritthäufigsten Todesursache. Maximal sechs Stunden Zeit bleiben den Ärzten heutzutage, um die schlimmsten Folgen dieses Unglücks zu verhindern.

Nun wollen Wissenschaftler dieses viel zu kleine Fenster vergrößern, indem sie den Ärzten neue Instrumente und Arzneien an die Hand geben. Wie dieses hochgesteckte Ziel zu erreichen ist, war eines der Themen beim Weltkongress für Neurowissenschaft in Prag. Hoffnung machte dort unter anderem Eng Lo von der Harvard Medical School in Charlestown, USA. Entgegen der Lehrbuchweisheit glaubt Lo, dass der Schlaganfall „ein fruchtbares Umfeld für die Reparatur schafft“. Denn was mit speziellen Aufnahmetechniken auf den ersten Blick aussieht, wie ein sich schnell ausbreitender Flächenbrand, ist bei näherem Hinsehen laut Lo eine „choreographierte Sequenz von Anpassungen in und um das geschädigte Hirngewebe.“

Zwar sterben zahlreiche Zellen ab. Die Überlebenden aber bilden umso mehr spezielle Eiweiße (Proteasen) zur Beseitigung der Trümmer sowie Schutz- und Wachstumsstoffe. Diese begrenzen den Schaden und fördern gleichzeitig die Bildung neuer Verbindungen zwischen den Nervenzellen (Neuronen). Zusätzlich werden Reparaturtrupps in Gang gesetzt: Aus der Tiefe des Denkorgans wandern unreife Nervenzellen an den Schadensort und verwandeln sich dort in voll funktionsfähige Neuronen.

Die bei einem Schlaganfall verlorenen Erinnerungen und Fähigkeiten kehren zwar durch all diese Maßnahmen nicht zurück. Die körpereigenen Reparaturarbeiten schaffen aber Ersatz für die zerstörten „Schaltkreise“. Und damit die Voraussetzungen für erfolgreiche Rehabilitation des Patienten.

Zahlreiche Versuche, die Reparaturprozesse des Gehirns mit Medikamenten zu unterstützen, sind in den vergangenen Jahrzehnten gescheitert. Auch die Resultate der ersten Zelltransplantationen vor vier Jahren waren nicht sonderlich beeindruckend. Jetzt aber scheint sich das Blatt zu wenden.

Auch fünf Stunden nach dem Schlaganfall ist nämlich die Arznei Abciximab noch wirksam, wie eine Studie mit 400 Patienten ergeben hat, die bei der 12. Europäischen Schlaganfall-Konferenz in Valencia vorgestellt wurde. Mehr als die Hälfte der mit Abciximab behandelten Studienteilnehmer erreichten auf der sechspunktigen Bewertungsskala mRS binnen drei Monaten einen Wert von 0 oder 1, wobei 0 für „normale Funktion“ steht. Unter den Patienten, die zum Vergleich ein Scheinmedikament erhalten hatten, verbesserte sich nur etwa ein Drittel auf mRS-Werte von 0 oder 1.

„Die einzige für die Behandlung des akuten Schlaganfalls zugelassene Arznei, TPA, dürfen Ärzte nur in den ersten drei Stunden benutzen, weil das Risiko von Blutungen sonst zu groß wird“, sagte der Schlaganfallexperte Werner Hacke. Der ärztliche Direktor der Neurologischen Universitätsklinik Heidelberg hatte die Studienresultate in Valencia vorgetragen.

Sollten sich aber die ersten Ergebnisse von Abciximab in weiteren Studien bestätigen, könnte der von der US-Firma Centocor entwickelte Wirkstoff das „therapeutische Fenster“ vergrößern und die Folgeschäden von leichten und mittleren Schlaganfällen deutlich reduzieren. Abciximab wird in die Blutbahn gespritzt, wo es Blutgerinnsel auflöst.

Wie lange Eingriffe sinnvoll sind, darüber scheiden sich allerdings die Geister. „Auch bei Abciximab lässt die Wirkung schon nach 90 Minuten nach“, sagt Hacke. Den Versprechungen der Grundlagenforscher begegnet der Arzt mit Skepsis.

In Prag allerdings waren die Optimisten in der Überzahl. „Wir können aus dem Gehirn viel mehr herauskitzeln, als wir glauben“, sagte Michael Chopp vom Henry-Ford-Hospital in Detroit. In seinem mitreißenden Vortrag erklärte Chopp, er wolle dem nach einem Schlaganfall geschädigten Denkorgan einen „Turbolader“ einbauen.

Zwei verschiedene Strategien hat Chopp bisher bei Ratten erprobt, denen er im Labor einen Schlaganfall zufügte. Mit einwöchiger Verzögerung injizierte er Zellen aus dem Knochenmark der Tiere ins Gehirn. Dort erwiesen sich die Neuankömmlinge als äußerst nützlich und trugen offensichtlich zur Erholung der Ratten bei.

Womöglich helfen sogar Medikamente, die es bereits in der Apotheke zu kaufen gibt. Ein heißer Kandidat hierfür sind eine Gruppe von Bluttfett-senkenden Arzneien, die Statine. Sie hätten eine bemerkenswerte Fähigkeit, die Formbarkeit des Hirns (Plastizität) zu fördern, sagte Chopp. In Kulturschalen verwandeln sich beispielsweise unscheinbare Klumpen unreifer Nervenzellen in Neuronen, wenn man Statine hinzufügt. „Sie bilden neue Fortsätze, als ob sie sich einen Afrolook zulegen würden“, beschrieb Chopp das Phänomen. Im Tierversuch förderten Statine außerdem das Wachstum neuer Blutgefäße sowie die Wanderung unreifer Nervenzellen zum Schadensort und deren Vermehrung vor Ort. Beim Menschen ist der Effekt noch nicht eindeutig belegt.

Und noch eine sehr bekannte Pille steht beim Schlaganfall auf dem Prüfstand: Ausgerechnet das gegen Impotenz verschriebene Viagra verringert – im Rattenversuch – den Umfang der Schäden im Gehirn und es scheint das Wachstum neuer Nervenzellen im Randbereich der Verletzung zu fördern, wie Chopp in Prag berichtete. „Auch ich nehme Viagra“, gestand der Wissenschaftler grinsend. „Für mein Gehirn!“

Michael Simm

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