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Gesundheit: Und sie bewegt sich doch

Trotz aller Unkenrufe: Politiker bringen die Schule mit neuen Lehrplänen und mehr Freiheit voran

Schulreform ist offenbar ganz einfach: Bis zum Abitur vergehen nur noch zwölf Jahre, die Kinder und Jugendlichen bleiben auch nachmittags in Ganztagsschulen, und schon in der ersten Klasse, spätestens in der dritten, beginnen sie mit Englisch. Doch so simpel, wie die meisten Politiker es sehen, ist die jetzt anstehende Reform nicht. Der Schock darüber, dass unsere Jugend im internationalen Vergleich schlechten Durchschnitt erreicht, ist nicht mit Patentrezepten zu überwinden. Im Gegenteil, ein kompliziertes Geflecht, vergleichbar dem Räderwerk einer Präzisionsmaschine, ist in Gang zu setzen, um die Schulwirklichkeit zu verändern. Und an diesem Geflecht wird, allen Unkenrufen zum Trotz, erfolgreich gearbeitet.

Zehn Jahre soll es dauern, bis das deutsche Schulsystem die Rückstände im internationalen Vergleich aufgeholt hat. Was für eine lange Zeit! Aber in diesen Perioden denken die Schulforscher schon seit 1997, als die OECD-Studien zeigten, wie durchschnittlich die Leistungen der Schüler in Mathematik und Naturwissenschaften sind. Als im Frühjahr 2002 über die Leseleistungen noch schlechtere Ergebnisse herauskamen, war wieder von einem langen Atem die Rede.

Bundesbildungsministerin Bulmahn wünscht sich in typischer Politikermanier mehr als dass Deutschland in dieser Zeit nur etwas höher auf der Rangliste steigt. In zehn Jahren erwartet sie, „dass wir beim Bildungsniveau wieder international unter den ersten fünf sind“. Drängt nur die Bundesministerin, während die immer wieder gescholtenen Kultusminister zögern? So will es die Öffentlichkeit sehen. Aber das stimmt nicht. Es gibt inzwischen klare Vorstellungen über die Reform und deren Umsetzung. Ja, es existieren sogar Zeitpläne. Schritt für Schritt bildet sich ein Masterplan für die Schulreform heraus.

Nun wird auch verständlich, warum das Allheilmittel modernen Reformdenkens, den einzelnen Schulen mehr Autonomie zu gewähren, der richtige Ansatz sein kann, um auch zu einem besseren Unterricht zu kommen. Mehr Autonomie für die einzelne Schule kann wirklich helfen, wenn alle erdachten Instrumente wie Zahnräder ineinander greifen. Zunächst müssen Eltern und Schüler neue Begriffe lernen. Was unterscheidet ein Curriculum von einem Kerncurriculum? Was unterscheidet Bildungsstandards vom Kerncurriculum? Wie misst man Kompetenzen, warum bedeutet die Umorientierung vom „Input“ zum „Output“ eine Revolution? Da prophezeien die Experten doch wahrhaftig, dass die Reform eine Veränderung der „fast zwei Jahrhunderte alten, etablierten Form der Steuerung eines Bildungssystems“ mit sich bringen wird.

Was war denn seit 200 Jahren üblich? Üblich war, dass die Schulträger – ob Staat oder Kirchen – mit Lehrplänen vorgaben, was in den Schulen gelernt wird. Curricula nennt man das heute – sie sind ein Teil des Inputs. Die Curricula waren im Laufe der Zeit auf Verlangen der Wirtschaft, der Politiker, der Gesellschaft und der Schulbehörden so voll gestopft worden, dass man sie immer weniger beachtete. Höchstens Anfänger im Lehrerberuf, die Autoren der Curricula selbst oder jene Lehrer, die wegen eigener Unsicherheit wenigstens einen Maßstab finden wollen, orientieren sich noch regelmäßig an den Curricula. Das sagen Kenner der Schulszene wie der Erziehungswissenschaftler Heinz Elmar Tenorth. Tenorth ist von den Kultusministern als einer der besten Schulkenner damit betraut worden, die Curricula für die deutschen Schulen zu überdenken. Er charakterisiert die Wirkungslosigkeit der bestehenden Curricula mit der Aussage: „Der Bildung hat es seit 200 Jahren nicht geholfen, dass sie schönste Welten entworfen hat, ohne zu wissen, wie diese zu erreichen waren.“

Das soll jetzt anders werden. Statt der Curricula, die alles regeln und in der Stofffülle ertrinken, soll es künftig Kerncurricula geben, die nur noch das für ein Fach Wesentliche vorgeben – das sind im Vergleich mit den herkömmlichen Curricula nur noch 40 Prozent des Stoffes. Da bleibt den Lehrern viel Spielraum zur eigenen Gestaltung und den Schulen ein Ansporn zur Profilierung.

Hinzu kommen Mindeststandards, auf die ein Team von Forschern um Eckhardt Klieme vom Institut für Internationale Pädagogische Bildungsforschung das Bildungssystem im Auftrag des Bildungsministeriums aufbauen will. Die Deutschen hätten 50 Jahre geträumt, dass sie mit ihrer Schulreform die sozialen Unterschiede beseitigen könnten, vor allem dass die Herkunft aus der Arbeiterklasse in der Schule keine Rolle mehr spielen würde, erklärt Tenorth den Sinn von Mindeststandards. Dann hätten uns die OECD-Vergleiche in der Pisa-Studie gezeigt, dass kein anderes der teilnehmenden Länder in seinem Schulsystem so sehr die sozialen Unterschiede abbildet wie Deutschland: Die meisten Risikokinder stammen aus der Unterschicht und den Migrantenfamilien und werden später kaum Chancen haben. Aus dieser Sackgasse sollen die Mindeststandards herausführen. „Zum ersten Mal lässt sich die Gesellschaft darauf ein, niemanden in seiner Bildung für sich allein zu lassen“, sagt Tenorth.

Man kann sich allerdings schon die Trauerreden auf den Untergang des Abendlandes vorstellen, wenn Deutschland ausgerechnet bei seinem Weg aus der Bildungsmisere nur noch auf Mindeststandards setzt. Die Kultusministerkonferenz ist hier deshalb vorsichtiger und spricht lieber von Regelstandards. Das betont Klaus Karpen, der Vorsitzende des Schulausschusses der Kultusministerkonferenz der Länder. Aber so weit von den Mindeststandards, wie sie Klieme, Tenorth und auch der Leiter der deutschen Pisa-Studie, Jürgen Baumert, propagieren, ist Karpen nicht entfernt. Auch die Kultusminister haben die Erfahrung gemacht, dass in Deutschland die Lernziele in den Curricula häufig von zu hohen Erwartungen ausgehen. Deswegen wird die Kultusministerkonferenz die Regelstandards erst testen lassen. Vielleicht werden die Regelstandards danach ebenfalls zu Mindeststandards.

Zusätzlich wird es Bildungsstandards geben. Sie sollen auf nationaler Ebene Schulvergleiche über erreichte Kompetenzen ermöglichen und den Politikern sowie der Gesellschaft endlich vermitteln, was in den Schulen in den 16 deutschen Ländern wirklich an Wissen erworben worden ist. Nicht an totem Wissen, das gerade für die nächste Klassenarbeit reicht, sondern an dauerhaftem Wissen, mit dessen Hilfe die Jugendlichen in konkreten Lebenssituationen wissen, wie sie Probleme lösen: Und genau das ist von der OECD in den TIMSS und Pisa-Tests verlangt worden. Das nennen die Bildungsreformer in Neudeutsch „Output“. Die erfolgreichsten Länder orientieren sich schon längst an der Output-Steuerung.

Damit alles vergleichbar wird, was die Schüler in den 16 Ländern lernen, werden sie überprüft. Diese Tests geben Hinweise, welche Kompetenzen auf der Basis der Bildungsstandards erreicht werden. Getestet wird nur vor entscheidenden Übergängen: Von der Grundschule zu weiterführenden Schulen und ein Jahr vor dem Abschluss der Haupt- und Realschulen sowie in der zwölften Klasse vor dem Abitur.

Wie es die OECD in den TIMSS- und PisaTests vorgemacht hat, gibt es etwa fünf Kompetenzstufen: Sie beginnen in der Sprache bei der oberflächlichen Wiedergabe des Gelesenen. Die höchste Kompetenzstufe reicht bis zur tiefen Analyse, Schlussfolgerungen, kritischem Hinterfragen und der Verknüpfung mit anderen Texten. Diese höchste Kompetenzstufe beherrscht in Deutschland nur eine Minderheit der 15-Jährigen.

Keine Angst müssen die Eltern davor haben, dass die Mindeststandards zum Maßstab für ein Mininiveau werden. Sie bilden nur den Ausgangspunkt. Den Schulen bleibt es selbst überlassen, welche Kompetenzstufe sie erreichen wollen.

Wenn jede Schule ihr eigenes Profil herausarbeitet und dazu sich die passenden Lehrer aussuchen darf, kann sie auch der Mehrzahl ihrer Schüler die höheren Kompetenzstufen vorgeben.

Uwe Schlicht

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