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Gesundheit: „Wir brauchen eine Bildungsoffensive“

Studentenberg: Arbeitsmarktforscherin Jutta Allmendinger fordert mehr Geld für die Hochschulen

Deutschland hat ein Problem: Es bekommt beginnend mit dem Jahr 2008 einen kaum zu bewältigenden Andrang von bis zu 2,7 Millionen Studierenden und unmittelbar nach dem Jahr 2020 einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Dann macht sich der rapide Bevölkerungsrückgang bemerkbar. Was empfiehlt die Arbeitsmarktforscherin angesichts dieser Sachlage?

Der hohe Andrang kommt auch dadurch zustande, dass es doppelte Abiturientenjahrgänge wegen der Schulzeitverkürzung bis zum Abitur von 13 auf 12 Jahre gibt. Dennoch darf man auf keinen Fall zu Untertunnelungsstrategien des Studentenbergs greifen, wie es schon einmal in der alten Bundesrepublik während der 1980er Jahre geschehen ist. Wie man das Problem heute bewältigen soll – dazu gibt es in Deutschland noch keine klare Vorgehensweise. Das Problem ist noch nicht einmal in allen Bundesländern erkannt worden. Wo es bekannt ist, werden nach meiner Kenntnis keine zusätzlichen Ressourcen zur Verfügung gestellt, um die neuen Studenten gut zu qualifizieren. Daraus leitet sich meine Forderung ab: Keine Untertunnelung des Studentenbergs, stattdessen müssen die Hochschulen zusätzliche Ressourcen erhalten.

Befindet sich Deutschland nicht insgesamt in einer kritischen Situation in der Bildung? Das sagen uns die internationalen Schulleistungstests Pisa und Timms. Überall ist der Anteil der Jugendlichen, die nur die niedrigen Kompetenzstufen I und II erreichen, zu hoch.

Das Qualifikationsniveau der deutschen Jugendlichen muss insgesamt gehoben werden. Wir haben in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern eine enorme Ausprägung von Bildungsarmut. Für diesen Befund sprechen drei Indikatoren: Erstens die Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss – das sind jedes Jahr fast 10 Prozent der Schulabgänger. Zweitens die Jugendlichen ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Betrachtet man die 20- bis 25-Jährigen, sind dies etwa 13 Prozent. Und drittens die Kompetenzarmen. Mehr als 22 Prozent der Schüler kommen nicht über die unterste Kompetenzstufe hinaus. Das sind viel zu viele. Wir brauchen eine Bildungsoffensive, nicht nur in den Hochschulen, sondern auch in der frühkindlichen Bildung, in den Hauptschulen und in der beruflichen Bildung. Nur mit einer solchen Bildungsoffensive können wird den drohenden Fachkräftemangel verhindern, der sonst aus dem erheblichen Rückgang der Bevölkerung in Deutschland folgen wird.

Es wird behauptet, der Arbeitsmarkt brauche nicht so viele Akademiker, sondern mehr Facharbeiter. Lässt sich der Ausbildungsanspruch der Jugendlichen womöglich sinnvoller bewältigen, wenn man ihnen vorrangig Lehrstellen anbietet?

Nein. Das Arbeitslosigkeitsrisiko von Absolventen mit Hochschulbildung ist wesentlich niedriger als das von Jugendlichen mit einer dualen Ausbildung. Alle Prognosen über die Veränderung der Beschäftigtenstruktur in den nächsten 20 bis 30 Jahren besagen, dass die Universitätsausbildung und die Fachhochschulausbildung noch sehr viel stärker nachgefragt sein werden als heute. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung setzt hier ein klares Ausrufezeichen: Wir müssen mehr in Fachhochschul- und Universitätsausbildung investieren. Gleichzeitig ist darauf zu achten, dass der Anteil von Auszubildenden im dualen System, bei notwendigen Reformen, nicht noch verringert wird. Alle Personen müssen eine Ausbildung bekommen.

In der alten Bundesrepublik der 1970er Jahre wurden 670 000 neue Ausbildungsverträge pro Jahr angeboten, heute tut sich die Wirtschaft schwer, im wiedervereinigten Deutschland auf über 560 000 neue Ausbildungsverträge zu kommen. Wäre die Wirtschaft zu einem erweiterten Angebot überhaupt in der Lage?

Das duale System ist historisch sehr stark an den sekundären Sektor gebunden und damit an die Industrie und wesentlich weniger stark ausgeprägt im Dienstleistungsbereich von heute. Da wir gerade im Dienstleistungsbereich zunehmend mehr Arbeitsplätze haben, wäre „more of the same“ nicht die richtige Antwort für die Arbeitsplätze von morgen.

Es wird behauptet, alle Prognosen über Schulabgänger und künftige Studienanfänger seien vage Hochrechnungen von Lobbyisten wie der Hochschulrektorenkonferenz oder dem Wissenschaftsrat. Deswegen sollte man von diesen Prognosen keine Kostenschätzungen ableiten. Was denken Sie?

Als Mitglied des Wissenschaftsrats muss ich hier über mich selbst sprechen. Insofern kann ich nur sagen: Ich beurteile die vorliegenden Schätzungen, darunter auch die des Wissenschaftsrats als extrem konservativ, weil wir nur die jetzige Studienanfängerquote fortschreiben. Diese Quote ist im Vergleich zu anderen Ländern sehr niedrig. Ich rechne daher mit einer wesentlich größeren Zahl von Jugendlichen, die künftig eine Hochschulausbildung nachfragen werden. Diese Quoten werden dann höher sein, als Kultusministerkonferenz, Hochschulrektorenkonferenz, Wissenschaftsrat oder auch ein Land wie Baden-Württemberg, das sich auf den Studentenandrang vorbereitet, erwarten.

Einflussreiche Politiker meinen, der Studentenandrang lasse sich durch die Umstellung der Studiengänge auf Bachelor und Master bewältigen, weil dann die Massen der jungen Bachelors bis zum Examen nur noch die Hälfte der Zeit benötigten wie heute. Ist das realistisch?

Wenn das eine Lösung wäre, dann müssten wir den Zugang zu Masterstudiengängen extrem beschneiden – also möglichst niedrige Übergangsquoten vom Bachelor zum Masterstudium durchsetzen. Die meisten Kultusministerien, der Wissenschaftsrat und die Wirtschaft erwarten jedoch einen hohen Anteil von Masterstudenten. Man wird nur in wenigen Bereichen mit einem Bachelor-Studiengang als abschließender Ausbildung zurechtkommen, weil der Master das eigentliche Äquivalent zum Diplom ist. Insofern ist das eine Milchmädchenrechnung.

Was passiert, wenn die Studienreform mit Bachelor und Master ohne eine bessere Betreuung umgesetzt und der Bund durch die Föderalismusreform gehindert wird, den Ländern bei der Finanzierung von mehr Lehrpersonal zu helfen?

Eine weitere Verarmung Deutschlands und eine Beschränkung des Innovationspotenzials.

Wie beurteilen Sie die Reaktionen von Bundesregierung, Ministerpräsidenten und Kultusministerkonferenz auf den Studentenandrang?

Ich habe erst eine Konferenz zu diesem Thema erlebt, und zwar in Stuttgart, auf der die Bewältigung des Studentenbergs explizit im Mittelpunkt stand. Ansonsten sind die Länderaktivitäten in diesem Bereich meines Wissens noch sehr verhalten. Es gibt relativ wenige Hochschulstrukturkommissionen in den Bundesländern, die sich mit dieser Frage beschäftigen. Wenn wir an die weitere Entwicklung Deutschlands auch im Hinblick auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit denken, müsste es eine langfristige und rechtzeitig angelegte Umschichtung von Ressourcen zugunsten der Hochschulen geben. Stattdessen wird es wohl erneut Untertunnelungsstrategien geben. Unter diesen Bedingungen wird sich die Betreuung der Studenten durch die Wissenschaftler noch verschlechtern. Das wird zu einer Verarmung in den Studieninhalten führen.

Wie viel Zeit bleibt noch, um das zu verhindern?

Wir brauchen eine Umschichtung der Ressourcen in allen Länderhaushalten. Dafür müssen umgehend entsprechende Strategien entwickelt werden. Wenn man jetzt keine ausreichenden Kapazitäten zur Verfügung stellt, hat man tatsächlich verlorene Generationen in Deutschland.

Das Interview führte Uwe Schlicht.

Jutta Allmendinger (49) ist Direktorin des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bei der Bundesagentur für Arbeit. Die Sozialwissenschaftlerin ist Mitglied des Wissenschaftsrats.

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