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Gesundheit: „Zu wenig Nachdruck bei Reformen“

Was geschehen muss, von der Krippe bis zur Hochschule: Ein Gespräch mit Jutta Allmendinger

Die Soziologin Jutta Allmendinger ist seit April Präsidentin von Europas größtem sozialwissenschaftlichen Institut, dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Sie tritt die Nachfolge des Historikers Jürgen Kocka an. Die 50-jährige Allmendinger leitete seit 2003 das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg. Dorthin war sie von einer Professur an der Münchner Uni geholt worden, die sie 1992 als erst 36-Jährige angetreten hatte. Allmendinger wurde 1989 an der Harvard-Universität promoviert. Zwischen 1988 und 1991 arbeitete sie am Max-Planck- Institut für Bildungsforschung in Berlin. 1993 habilitierte sie sich an der Freien Universität. Allmendinger ist seit Februar zudem Professorin an der Humboldt-Universität . Ihre Schwerpunkte sind Arbeitsmarkt- und Bildungssoziologie und Sozialpolitik. Tsp

Frau Allmendinger, haben Sie als neue WZB-Chefin schon einen Termin bei der Bundeskanzlerin? Ihre Spezialgebiete sind ja Arbeitsmarkt-, Familien- und Bildungspolitik - alles Themen, die auch die Große Koalition umtreiben.

Wir sind locker verabredet. Ich freue mich auf ein Gespräch, einen konkreten Termin gibt es aber nicht.

Deutschland streitet um Krippenplätze. Geht es dabei um die Rolle der Frau in der Gesellschaft?

Ja. Leider führen wir diese Diskussion im Vergleich zu anderen Ländern sehr spät und noch nicht grundsätzlich genug. Mehr Krippenplätze sind nötig, um Frauen überhaupt eine Wahlfreiheit zu geben, richtig. Aber welche Gesellschaft wollen wir? Die alte Arbeitsgesellschaft mit einem Normalarbeitsverhältnis nun auch für Mütter? Oder reden wir über eine Umverteilung der Arbeitszeit zwischen Müttern und Vätern? Wie justieren wir das Verhältnis von Markt, Staat und Familie?

Sie erforschen gerade, wie sich private Lebensformen bei Paaren verändern.

Wir arbeiten an einem Projekt über die Geldverteilung in Paarhaushalten. Man sagt ja, das eigene Geld von Frauen führe auch zu einer neuen Selbstständigkeit, zu einem „Stück eigenem Leben“. Die Ergebnisse sind ernüchternd. Innerhalb der Paare findet oft eine Umdeutung des Geldes statt, das Geld wird symbolisch aufgeladen. Häufig sehen wir dann, dass Frauen das ‚unwichtigere’ Geld verdienen, welches dazu dient, die Miete und andere laufende Kosten abzudecken. Der Mann verdient das besondere Geld, weil es eher für Extras und größere Anschaffungen ausgegeben wird. Das eigene Geld führt also nicht notwendig zu mehr Gleichheit innerhalb von Paaren.

In Deutschland verdienen Frauen viel weniger als männliche Kollegen und besetzen nur einen geringen Anteil der Führungspositionen. Was muss geschehen?

Je nach Art der Berechnung schwankt die Größenordnung der Gehaltsunterschiede. Sie gehen von sehr hohen Differenzen aus und betrachten damit das durchschnittliche Einkommen von Männern und Frauen. Dies ist eine Bruttogröße. Andere betrachten Nettogrößen und fragen: Was würden Frauen verdienen, wenn sie die gleichen Arbeitszeiten wie Männer hätten, in vergleichbaren Tätigkeiten? Machen wir Frauen dergestalt zu Männern, so schwinden die Unterschiede, liegen allerdings noch immer bei deutlichen elf Prozentpunkten. Diese Nettogröße bezeichnet das Ausmaß der Diskriminierung, anzusetzen ist hier insbesondere bei den Arbeitgebern. Die Bruttogröße ergibt sich daraus, dass Frauen, insbesondere Müttern, schon aufgrund der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht die gleichen Möglichkeiten wie Männern gegeben werden. Da sich diese Unterschiede auch voll auf die Altersrente übersetzen, muss hier schleunigst etwas getan werden.

Dann läuft es wohl doch auf die Krippenfrage hinaus. Wollen Sie am WZB eine Kinderkrippe eröffnen?

Zumindest ein Kinderzimmer. Wir haben ein solches am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung eingerichtet und damit ein deutliches Zeichen gesetzt: Nicht nur Frauen, auch Mütter und Väter sind sehr willkommen. Ich weiß um die Tücken der Kausalität, aber die Kinderzahlen am IAB liegen heute weit über jenen der Vorjahre. Als Indikator von Chancengleichheit betrachten wir nun eben nicht nur die Frauenquoten, sondern auch die Kinderzahl. Dass sich nun auch Kinder in den Fluren der Forschung zeigen, macht einen Unterschied.

Sie attestieren Deutschland eine „enorme Bildungsarmut“ und fordern eine Bildungsoffensive. Hat sich seit Pisa nicht schon vieles bewegt?

Immerhin wird der Begriff verwendet. Als ich vor zehn Jahren ausgerechnet in Bayern über Bildungsarmut schrieb, wurde mir noch eine Skandalisierung unterstellt. Pisa lässt Deutschland keine andere Wahl, als sich einem Problem zu stellen, das alles andere als neu ist. Pisa hat auch den bislang gängigen Indikatoren von Bildungsarmut – dem Fehlen eines Hauptschulabschlusses oder einer beruflichen Ausbildung – durch die Messung von Kompetenzen eine neue, spannende Facette gegeben. Das Ausmaß von Kompetenzdefiziten ist hoch, wir sprechen über ein Fünftel eines Jahrgangs. Am wichtigsten vielleicht: Bei Pisa handelt es sich um eine international vergleichende Studie, die uns zeigt, dass Bildungsarmut nicht sein muss. Andere Länder kommen fast ohne aus. Also: Pisa hat uns viel gelehrt. Ob Pisa viel bewegt hat, ist eine andere Frage. Weiterhin wird völlig ergebnisoffen über das dreigliedrige Schulsystem gesprochen. Der Zusammenhang zwischen Bildung und sozialer Herkunft ist ungebrochen. Migranten der zweiten Generation haben niedrigere Kompetenzen als die der ersten Generation.

Muss man die Gemeinschaftsschule einführen?

Eine Trennung von Zehnjährigen in unterschiedliche Schulformen ist nicht förderlich. Es passieren zu viele Fehler in der Zuweisung, man verhindert Wissens- und Kompetenztransfers zwischen Kindern unterschiedlicher Herkunft, die Dreigliedrigkeit ist international daher ein Sonderfall. Allein hier anzusetzen wäre dennoch viel zu wenig. Wir brauchen auch andere Kindergärten, Lern- nicht nur Spielwiesen. Mein heute 13-jähriger Sohn war im Alter von drei Jahren ein Jahr im Ausland und wurde dort wahrlich nicht gezwungen, Kontinente, Zahlen und Sprachen spielend zu lernen. Diese Normalitäten haben deutsche Kindergärten noch heute nicht. Und dringend brauchen wir die Ganztagsschulen. Auch hier bewegt sich etwas, aber mit zu geringem Nachdruck.

Auf welche Schule geht Ihr Sohn?

Er ist auf einem klassischen Gymnasium, auf einer öffentlichen Schule in Bremen. Und da bleibt er auch.

Als das WZB vor drei Jahren evaluiert wurde, kritisierten die Gutachter eine zu starke Ausrichtung auf Politikberatung und forderten, das theoretische Profil zu stärken.

Das WZB wurde sehr positiv bewertet. Und die Publikationen des WZB erscheinen seit vielen Jahren in den besten internationalen Zeitschriften. Eine einheitliche theoretische Ausrichtung, ein einheitliches Profil kann es aber nicht geben. Und ebenso wenig darf eine theoretische Ausrichtung mit einem Rückzug aus der Politikberatung gleichgesetzt werden.

Das WZB befindet sich in einem Generationswechsel. Forschungsdirektoren gehen in den Ruhestand oder haben das Institut bereits verlassen. Wie werden die Neubesetzungen das Institut neu profilieren?

Das WZB wird noch jünger werden. Wir sind im Moment in Besetzungsverfahren, und die berufenen Personen werden als profilierte Forscherinnen und Forscher neue Akzente setzen. Die inhaltlichen Schwerpunkte, innerhalb derer sie sich bewegen werden, sind noch immer aktuell und somit richtig definiert, die Breite der sozialwissenschaftlichen Forschung am WZB ist für mich unantastbar, sie ist noch zu stärken.

Sie wollen die Bildungs- und Wissenschaftspolitik am WZB stärken. Ein Thema soll dabei die Differenzierung der Hochschullandschaft im Zuge des Elitewettbewerbs sein. Experten befürchten, der Wettbewerb könnte die meisten Universitäten beschädigen. Stimmt das?

In Deutschland waren wir stets stolz darauf, keine großen Unterschiede zwischen Universitäten zu haben. Verglichen mit anderen Ländern war der Anteil der Studierenden immer gering, die Verbindung von Forschung und Lehre oberstes Ziel, Diplomstudiengänge selbstverständlich, ebenso die Abhängigkeit von den Ministerien und die Lernfreiheit. Breite Begutachtungen gab es noch nie, die Selbstkontrolle der Lehrenden war gesetzt, private Universitäten gab es nur wenige. Es ist also nicht nur der Elitewettbewerb, der zu Differenzierungen führen wird. Wir werden sehen, dass vieles, was wir in der dualen Berufsausbildung anbieten, in Bachelor-Studiengänge an Universitäten überführt werden wird. Wir werden viele Hochschulen haben, die dann keine Eliteunis sind, aber gut für den Beruf ausbilden.

Im Moment wünscht sich wohl kaum eine Universität diese Aufgabe.

Ich sehe die Differenzierung durchaus positiv. Wir müssen die Hochschulen für mehr Personen öffnen, nicht nur für junge. Tätigkeitsstrukturen verändern sich schnell und erfordern eine höhere Bildung, auch ein Mehr an Weiterbildung. Nur jeder Dritte nimmt ein Hochschulstudium auf. Wir müssen viel tun. Das bekommt kein Land mit einer undifferenzierten Hochschullandschaft hin.

Das Gespräch führten Amory Burchard und Anja Kühne.

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