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Gesundheit: Zukünfte entwerfen

Ein Manifest will die Kulturforschung stärken

Vollautomatisierte Städte, fliegende Autos und Kinder mit künstlichen Organen – so stellt sich die ZDF-Serie „2057“ das Leben in der Zukunft vor. Flankierend stellen „internationale Spitzenforscher“ frohgemut intelligente Häuser, gläserne Patienten und rauschende Datenströme in Aussicht. Das Leben der Zukunft, so scheint es, ist gut aufgehoben bei den Fachleuten der sogenannten Life Sciences.

Gegen die Okkupation des Lebensbegriffes durch die Biowissenschaften erheben jedoch Kulturwissenschaftler Einspruch. Das geschieht nicht seit gestern, seit letzter Woche aber programmatisch. „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“ heißt eine soeben in der Romanistik-Zeitschrift „Lendemains“ erschienenes Manifest des Potsdamer Romanisten Ottmar Ette. Der Spezialist in Sachen Alexander von Humboldt und vor drei Jahren Herausgeber der opulenten „Kosmos“-Edition möchte die Kulturwissenschaften aus einer Defensive befreien, in die sie nicht ganz unverschuldet geraten sind. Zum einen geht es darum, das Missverständnis zu klären, Lebenswissenschaft gehe in den Biowissenschaften auf. Zum anderen aber soll eine mit neuem Selbstbewusstsein ausgestattete Kulturwissenschaft ihr verschüttetes Wissenspotenzial in die Gesellschaft hineintragen und dort zum Zirkulieren bringen. Sonst nämlich „verkennt sie ihre gesellschaftliche Bringschuld und ist am Ende selbst schuld, wenn die Gesellschaft sie um ihre Mittel bringt“.

Nein, einen neuen „turn“ wollte Ette nicht ausrufen, als er jetzt im Iberoamerikanischen Institut sein Manifest präsentierte und mit dem Philosophen Christoph Menke, dem Romanisten Wolfgang Asholt und dem Anglisten Ansgar Nünning diskutierte. Ein „twist“, ein kleiner Dreh also, dürfe es aber schon sein. Dass dabei etwas Tänzerisch-Spielerisches anklingt, ist durchaus willkommen. Denn gerade Literatur, so Ette, sei ein „dynamisches Speichermedium von Lebenswissen“. Literatur kann gleichzeitig verschiedenen Logiken folgen, experimentell Alternativen durchspielen und dabei Zukünfte entwerfen. Denn es geht um nichts Geringeres als die Frage, „wie wir im 21. Jahrhundert zusammenleben wollen“. Da wäre es sträflich, Lebenswissen auf funktionale Abläufe, Verwertung und Codes zu reduzieren.

Gegen diesen biotechnologisch zurechtgestutzten Lebensbegriff, der zum gültigen Paradigma zu werden droht, hat auch Christoph Menke einiges einzuwenden. Einzig auf Notwendigkeit ziele er ab, während es schon den traditionellen Geisteswissenschaften immer um ein Wissen zur Freiheit gegangen sein. Doch Überschuss und Unkontrollierbarkeit werden von den Biowissenschaften ebenso vernachlässigt wie Probleme sozialer Migration, kultureller Vermischung oder einer Kommunikation, die über den bloßen Informationsabgleich hinausführt.

Ette schreibt der Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft ins Stammbuch, sich endlich der enormen Weite ihrer Fragehorizonte bewusst zu werden. Was da anhand von Texten verhandelt wird, ist keineswegs nur putzige philologische Pfadfinderei, sondern besitzt gesellschaftliche Relevanz – weil es beim „Erlebenswissen“ der Literatur um ein Wissen geht, das aus dem Leben gewonnen und im Leben benötigt wird. Diese Relevanz freilich muss in den Raum der Gesellschaft erst einmal übersetzt werden. Die Biowissenschaften praktizieren diese Vermittlung in eigener Sache längst hochprofessionell und erfolgreich. Bei ihnen lässt sich lernen, dass es dazu nicht zuletzt einer angemessenen Sprache und der Fähigkeit des Erzählens bedarf.

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