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Von der Schule in Carrefour blieben am 12. Januar 2010 nur Trümmer. Sie begruben 150 Kinder unter sich.

© Ingrid Müller

Neue Schule für Erdbebenopfer: Lernen auf dem Berg der Verschütteten

2010 begrub die Schule in Carrefour in Haiti 150 Kinder unter ihren Trümmern. Architekten aus Chile haben dort eine moderne Schule gebaut. Es gibt schon mehr Anmeldungen als Plätze. 

Steil geht es bergauf. Erst die ausgewaschene Geröllpiste oberhalb des Flusses entlang, vorbei an den fliegenden Händlern und kleinen bunten Geschäften. Dann ächzt der Geländewagen das letzte Stück befestigten Weg hinauf zu den Kleinen Schwestern von St. Therese in Carrefour. Wie haben sie bloß Bagger und Radlader hier hoch geschafft?

Hier oben, das ist die Schule St. Francois de Sales, anderthalb Autostunden von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince entfernt. Bei dem verheerenden Erdbeben am 12. Januar 2010 begruben die Trümmer der Schule 150 Schüler, vier Lehrer und drei Ordensschwestern – die meisten Leichen gab der Berg nie wieder her.

Schwester Gisele lag auch unter dem verkeilten weißen und grünen Betongebirge, das das Beben nach 40 Sekunden an diesem Nachmittag um 16.53 Uhr übrig ließ. Sie konnte sich nach einer halben Stunde schließlich selbst befreien. Aber sie konnte nicht fassen, was da gerade passiert war. Noch Tage später waren sie und ihre Mitschwestern kaum ansprechbar, irrten durch das unwegsame Trümmerfeld. Sie hofften lange, dass doch noch ein Kind lebend geborgen würde, sie fanden noch 69 Verletzte. Sie wollten wenigstens die kleinen Körper begraben können. „Kinder, die verschüttet waren, riefen meinen Namen“, Schwester Gisele schüttelt den Kopf, hält sich die Schläfen, als würde es dann besser mit der quälenden Erinnerung. „Ich werde nie vergessen, wie wir die Toten in ihren Uniformen aufgereiht haben und ihre Eltern sie holten“, sagt sie leise, zieht die Augenbrauen hoch und schiebt ihre Hände übereinander. Ein kleiner Friedhof liegt nur ein paar Meter weiter, bunte Plastikblumen hängen heute an den Gräbern.

Nah und fern zugleich.

Die Kinder sind aggressiver als früher

Nebenan rennen juxend Mädchen und Jungs durcheinander, sie toben, lachen, holen sich in der Mittagshitze eins der kleinen Plastiksäckchen, in denen in Haiti Trinkwasser verkauft wird, wie bei uns Capri Sonne. Sie drängen sich im Schatten unter dem großen Baum hinter der Kapelle. Doch die fröhliche Tollerei ist nur ein Teil der Realität. Seit dem Beben sind die Kinder aggressiver, erzählt Schwester Gisele. Wenn es Streit gibt, schlagen sie zu, es werde viel geheult seither. Mehr sagt sie über diese Dinge nicht.

Aus der anderen Richtung dringen die Geräusche von Bohrern und Hämmern herein. Seit rund drei Jahren lernen die Überlebenden in provisorischen Klassen, im Zweischichtsystem, die einen morgens, die anderen nachmittags.  Nebenan am Hang entsteht ihre neue Schule.

Vergangenheit. Gegenwart. Zukunft.

Das Projekt kostet 4,3 Millionen Dollar

Den Grundstein für die neue Anlage haben sie am ersten Jahrestag gelegt, die Unterstützung der Duisburger Kindernothilfe macht das 4,3 Millionen-Dollar-Projekt möglich. Es ist ihr bisher größtes Vorhaben. Im neuen Schuljahr sollen die Kinder dort lernen. Schwester Gisele hat gerade mit Schwester Lops und Bauleiter Alvaro Arriagada die Baustelle besichtigt. Mit Helm über ihrem hellblauen Habit sind sie dem chilenischen Architekten durch den imposanten Bau gefolgt. „Ich hätte nie gedacht, dass so etwas dabei herauskommt“, sagt Schwester Lops, ein Kreuz und ein Marienbild vor der Brust, und guckt fröhlich hinunter ins Tal. Sie habe all die Pläne gesehen, aber das hier, das werde nun eine der besten Schulen des Landes. Erdbebensicher nach internationalen Standards, sie nutzen Regenwasser und Sonnenkollektoren, es gibt einen Computerraum und sogar ein Chemielabor. In der Bibliothek sollen Bücher über Leben, Liebe und Hass stehen: haitianische Romane und internationale Philosophen. Von Bibeln ist keine Rede. „Ein wunderbares Gebäude“, flötet Schwester Lops. Das hat sich offensichtlich bereits herumgesprochen. Die Schwestern können sich vor Anmeldungen kaum retten, trotz Schulgebühren von 2000 Gourdes pro Jahr. Das sind rund 50 Dollar, in Haiti ist das viel Geld. Dort beträgt das jährliche Pro-Kopf-Einkommen 720 Dollar, die Hälfte der Bevölkerung muss sogar mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen. Viele Eltern haben noch Schulden fürs zu Ende gehende Schuljahr, sagt Schwester Gisele. Aber die Kosten schreckten die Eltern nicht ab. „Wir müssen schon Kinder abweisen.“ Die Klassen sollten nicht mehr als 50 Schüler haben.  

Der chilenische Architekt Alvaro Arriagada (Mitte) ist Bauleiter der neuen Schule der Ordensschwestern. Die Kindernothilfe hat dafür extra Fachleute aus Chile geholt, sie kennen sich mit Erdbeben aus.
Der chilenische Architekt Alvaro Arriagada (Mitte) ist Bauleiter der neuen Schule der Ordensschwestern. Die Kindernothilfe hat dafür extra Fachleute aus Chile geholt, sie kennen sich mit Erdbeben aus.

© Ingrid Müller

Bauleiter hat Alvaro Arriagada alle Hände voll zu tun, damit die Schule fertig wird. Er ist Anfang 30 und ein  zurückhaltender Mann. Er mag es nicht, wenn Aufhebens um seine Person gemacht wird. Aber wenn es um dieses Projekt geht, gerät er ins Schwärmen: „Ich liebe diese Schule“, sagt er, während er über den Amphitheaterartigen Innenhof der Schule zeigt. 23mal ist er seit Februar 2010 in Haiti gewesen, damals hatte die Kindernothilfe ihn und einen Kollegen aus Chile gebeten, ihnen beim Wiederaufbau der Schulen ihrer Partner zu helfen. In Chile bebt es sehr viel öfter als in Haiti, die Architekten haben Expertise. Die Schule soll nicht nur ein mustergültiges Gebäude werden, sondern auch Kern für die soziale Entwicklung der ganzen Region sein. „Die Bauarbeiter kommen aus der Umgebung, durch das Projekt kommt Elektrizität in diese Gegend“, skizziert Arriagada Vorteile des in dieser Gegend riesig anmutenden Komplexes, während er Fotos von den Arbeiten macht. In der Schule sollen sich auch Gruppen aus der Kommune treffen können.  

Es ist eine spannende Aufgabe für Arriagada. Der Chilene braucht acht Stunden, um nach Haiti zu fliegen, aber er hat sich mit Leidenschaft in diese Arbeit gestürzt. Anfangs lebte er mit Kollegen und einer ganzen Mäusefamilie zusammen in einem Haus, inzwischen wohnt er bei seinen Besuchen in einem Hotel. Erst vor ein paar Monaten ist er Vater geworden. Im Moment fällt es ihm schwer, zwei Wochen nicht daheim zu sein. Aber er könnte sich durchaus vorstellen, mit Frau und Kind für einige Zeit nach Haiti zu ziehen. Genug zu tun gäbe es für Architekten, inzwischen hat er sich in die Tücken der haitianischen Bürokratie eingearbeitet. Und er weiß, wie anstrengend es sein kann, mit Ordensschwestern zu bauen.

Von der Erschütterung der Schwestern 2010 ist nichts mehr zu merken. Schwester Gisele, Schwester Lops und ihre Kolleginnen haben ein gesundes Selbstbewusstsein. Das machte den Bau für 1400 Schüler in dem schwierigen Gelände am Berg zeitweise zu einer sehr zähen Sache. Immer wieder haben die Schwestern neue Wünsche angemeldet, bis in die letzten Bauwochen hinein.

Alvaro Arriagada ist viel zu höflich, die Differenzen anzusprechen. Aber die Pläne seines Büros sprechen eine deutliche Sprache. Durchschnittliche Steigung im Gelände: 30 Prozent. Einziger Zugang: der steile Weg. Wenn es regnet, müssen die Trucks am  Fuß des Bergs warten. Vor allem dürften die Architekten die Schule nicht auf dem Plateau bauen, auf dem früher die Schule stand, das im Mai 2010 bereits wieder freigelegt war. An der Stelle sollen Häuser für den Orden und eine Gedenkstätte für die Opfer entstehen. „Wir brauchen Land für uns“, sagt Schwester Lops. Arriagada würde am liebsten auch noch eine kleine Uni bauen. Aber schon mit der Schule musste er an den Hang ausweichen. Dass die Bauarbeiter teilweise mit Hammer und Meißel dem Felsen zuleibe rücken mussten, rührt Schwester Lops offenbar nicht. Das hat aber mehr Zeit und Geld gekostet. Ursprünglich sollte die Schule im vergangenen Jahr fertig werden. Die Klassenräume hat Arriagada terrassenartig am Hang angelegt, gut belüftet, mit klaren Fluchtwegen. Angesichts des eingeschränkten Platzes werden sie auch in Zukunft in zwei Schichten unterrichten müssen. Arriagada sagt ruhig: „Jetzt müssen wir fertig werden.“

Die freundliche Micky Maus hat all das Chaos überstanden

Wenn sie Einweihung feiern, wird die Gäste ein Gesicht begrüßen, das alle schon von vor dem Beben kennen: Micky Maus. Das bunte Bild auf der halbhohen Mauer am ehemaligen Eingang hat alle Wirren überstanden, Micky Maus lugt zwischen Provisorien, Containern und Radladern hindurch und wünscht „Bienvenue“: Willkommen.            

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