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© Davids/ Darmer

Alternativprogramm Mauerfall: Billard um halb zehn

Es war Donnerstag. Die Sauna lag hinter uns, das Bier stand neben uns und vor uns lag der wöchentliche Billardabend. Nach einem kräftigen Anstoß zerstoben die Farben und verteilten sich auf dem Grün. Habt ihr das gehört? Was denn? Das Radio lief unbeachtet. Die Mauer ist auf. Die Mauer ist auf? Ja; hört doch.

Zwei Minuten lauschten wir. Vereinzelte, geschriene Originaltöne aus Menschenmassen, Reporterstimmen. Wir berichten direkt von der Bernauer Straße, vom Checkpoint Charlie, aus dem Tränenpalast! Hier sind Tausende, Zehntausende von Menschen und es werden immer mehr! Wir spielten weiter.

Einzelne Sätze fielen zwischen mehr oder weniger gelungene Manöver mit Queue und Kugel. Eigentlich müssten wir in die Stadt fahren. Wir wechselten die Mannschaften, jetzt mal Hermann und Michael gegen Rosi und Ute. Hoffentlich greifen die Russen nicht ein. Ich traf nicht mehr, rauchte, ließ eine Runde aus.

Ich bin ein Nach-Mauer-Gewächs. 1968 hatte ich gerade eben das Daumenlutschen aufgegeben, die Mauer hatte ich gesehen, wenn wir Besuch hatten. Am Brandenburger Tor waren wir die Holzstufen hinaufgestiegen, hatten in die Ferngläser auf den Wachtürmen geschaut und waren zum Kaffeetrinken wieder nach Hause gefahren. Das sommerliche Anstellen an den Grenzübergängen gehörte zum Urlaub wie See und Berge. Ich war ein West-Berliner Kind, und es fehlte mir an nichts. West-Berlin würde es nicht mehr geben. Stattdessen was?

Am nächsten Morgen wollte ich zur Arbeit fahren, mich weit im Westen der Stadt an die Routine halten. Ein bisschen früher los, das würde genügen. Auf dem Autobahnkreuz Wilmersdorf war es vorbei. Wir standen. Stunde um Stunde. Niemand stieg aus. Es war ein strahlender, sonniger Tag. Einige Minuten überlegte ich, mein altes Auto einfach stehen zu lassen und zu gehen. Aber wohin? Das Neue quoll von allen Seiten in die Stadt.

Bis tief in die Nacht saß ich vor dem Fernseher, war in Telefonaten über Tag auf wenig Verständnis gestoßen. „Kommst du mit zum Brandenburger Tor?“ „Nein.“ „Wir fahren zur Glienicker Brücke, willst du mit?“ „Nein.“ „Was ist los mit dir?“ Es war wie eine Flutwelle, vertrautes Terrain überschwemmt von fremden Bildern, Tönen und Gerüchen. Wie würde mein Zuhause aussehen, wenn das Wasser sich zurückzog?

Nachts machte ich mich auf den Weg. Den Schal bis über die Nase gezogen, obgleich es nicht besonders kalt war, ging ich zum Brandenburger Tor, zum Checkpoint Charlie, zur Friedrichstraße, einmal ganz hinauf bis zur Bernauer. Ich lauschte dem Klopfen, das Erinnerungsbröckchen aus Beton löste, und stand. Ich stand an eingebrannten Grenzen, manchmal Viertelstunden lang, um dann einen Fuß zu setzen auf Terrain, das unbetretbar gewesen war, solange ich denken konnte. Es würde nun dazu gehören, ob es mir gefehlt hatte oder nicht. Ich ging einen Schritt vor, stand, sah feuchtes Laternenlicht. Zog den Fuß wieder zurück.

An der Bernauer Straße traf ich gegen Mitternacht eine ältere Frau. „Wissen Se“, sagte sie plötzlich, „wissen Se, ick find dit allet jut so. Dit jeht ja nich, so ne Mauer die janze Zeit. Aber watt würd denn jetzt? Watt würd denn?“ Sie ging davon und mir schwante, dass sie mir näher sein könnte als Menschen aus Aachen oder Offenburg.

Die Veränderung begann an einem Sonntagnachmittag. Wir gingen spazieren, am südlichsten Ende Berlins auf einer Allee zwischen Feldern. An deren Ende stand die Mauer. Bagger bewegten sich emsig im fahlen Winterlicht. Ein Grund stehen zu bleiben, jener Tage. Mit uns vielleicht zwölf schweigende Menschen. Motorenbrummen, Schläge, Stimmen der Bauarbeiter. Der Beton bewegte sich. Ein erster Versuch, er saß noch fest. Weiteres Schneiden, Graben, Ziehen.

„Jibt’s dit Kino noch?“ Ein alter Mann warf die Frage hinüber, wie einen Test, ob dort Menschen wären. „Nee, is jetz’n Konsum drin.“ Dann kam der Greifarm, und plötzlich sahen wir uns. Hüben und drüben stand eine ost-westliche Sonntagsgesellschaft und blickte eine Straße entlang, deren Unterbrechung nur wenige Meter betrug. Es waren kaum zwei Dutzend Menschen und niemand bewegte sich, niemand winkte. Ein stummes Mustern von Kleidung, Gesichtsausdruck, Haltung. Waren sie fremd? Waren sie wie wir? Ein Mann setzte seinen Fuß, verschwand bis über den Knöchel in märkischem Sand, der bis vor kurzem tödlich gewesen war. Er zog ihn zurück und leerte den Schuh aus. So standen wir wieder und betrachteten den Durchgang, auf dessen Dauer noch nicht recht Verlass war. Nach und nach kam Bewegung in die kleine Schar. Manche hielten sich fest an den Händen, manche gingen als Pioniere, wurden angefeuert, bis die übrigen sich trauten. Der tiefgefurchte Sand bot den Vorwand, sich langsam zu bewegen. Es war schwer zu glauben, dass dieser eben noch unüberwindliche Streifen nur noch eine kahle Schneise war. Wir gingen hinüber auf die andere Seite, nur um es zu tun. Am Ende trafen wir uns in der Mitte, uns dem Standort unserer Füße so bewusst wie selten. Konsum und Kino kamen ins Gespräch. Wie sieht es dort aus und dort? Lebt diese noch und jener? Als ob nur eine kurze Zeit zu überbrücken wäre.

Ich setzte meine Wanderungen fort, seit jenem Sonntag ertrugen sie Tageslicht. 50 Meter hin und 49 Meter zurück ging ich Wege, die bislang nach 20 Metern zu Ende gewesen waren. Immer wartete ich darauf, dass mich jemand aufhielte, meinen Ausweis sehen wollte.

Ein Jahr und einen Sommer später stand ich auf dem oberen Bahnsteig an der Friedrichstraße. Das große Bauen hatte begonnen. Ich lief ich den Bahnsteig hinauf und bleib am nördlichen Ende stehen. Ich dachte an die unzähligen Male, die ich hier umgestiegen war auf dem Weg zur Berufsschule. Auf der Galerie hatten Grenzsoldaten gestanden mit Maschinengewehren. Sie sahen auf die Menschen hinunter, die sich hier systemgefährdend mischten. Auf Ebenen bis tief unter die Erde kreuzte sich Ost und West. Es war der einzige Ort gewesen, an dem ich zugestand, dass manches merkwürdig war an meiner Stadt.

Ich konnte jetzt in jede Richtung gehen. Nach rechts zur Museumsinsel. Weiter nach Süden zum Gendarmenmarkt, auf dem ich 1984 spürte, dass ich in einer amputierten Stadt lebte und diesen Gedanken schnellstmöglich vertrieb. Ich stand auf dem Bahnhof und begriff, dass eine Beklemmung, eine Begrenzung von meiner Stadt gewichen war, die ich kaum jemals als störend wahrgenommen hatte.

„Watt würd denn jetzt?“

Ich wusste es nicht. Aber ich würde mich in alle Himmelrichtungen bewegen können. Heike wollte eher etwas wie ich, nur im anderen Teil der Stadt. Einfach dort bleiben, wo sie zu Hause war.

Wir haben immer wieder darüber gesprochen, und sie war überrascht, dass auch ich ein Gefühl von Verlust hatte. Dann kamen Helga, Bert und Konrad. Sie trugen ihre Vergangenheit bei sich und hatten nicht vor, sie abzulegen. Das hat sie nicht daran gehindert, die neue Welt zu betrachten und nach einem Platz darin zu suchen. Ihre Suche muss um Vieles komplizierter gewesen sein als meine. Wir sprachen über Verlorenes und Gewonnenes, spotteten über jene, die sich Neuberliner nannten, uns aus Fernsehstudios in Mitte unsere Stadt erklärten. Wir tauschten aus, wie es sich von der einen und anderen Seite angefühlt hatte, die Betonplatten, Zäune und stolz gereckten Wachhäuschen fallen zu sehen. Wir stritten, verstanden uns nicht, umarmten uns trotzdem. Mich haben Ost-Menschen gewendet, die heute nicht mehr so heißen.

Für diesen – hier gekürzten – Text erhielt die Autorin den „Zeitzeugenpreis Berlin-Brandenburg 2009“.

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