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Der zweitschönste Tag: Spazierganz durchs Tor

Tagesspiegel-Leser Ernst-Hermann Kubitz wagte am Abend des 9. November gemeinsam mit seiner Frau den Sprung von der Mauer in den Osten, um einmal kurz durchs Brandenburger Tor zu gehen.

Seit fast 20 Jahren hängt an einer Glastür unseres Wohnzimmers in Berlin-Marienfelde ein inzwischen vergilbter Sonderdruck des Tagesspiegels vom 10. November 1989 mit vielen Menschen auf der Mauerkrone. Dieses Blatt soll unseren Kindern, Enkeln und Freunden eine Erinnerung an eines der eindrucksvollsten Erlebnisse unseres bisherigen Lebens sein und bleiben. Meine Kindheit war geprägt durch die 10-jährige russische Gefangenschaft meines Vaters, der standhaften Weigerung unserer Mutter, sich im sächsischen Glauchau an den kommunistischen Wahlen zu beteiligen ( Zitat:”... wenn mein Mann aus der Gefangenschaft zu seinen vier Kindern heimkommt, könnt ihr wiederkommen!”) und dem Verbot unserer Mutter, den Jungen Pionieren bzw. der FDJ beizutreten. Diesem Verbot antworteten die Parteigrößen mit der Entscheidung, dass meine beiden älteren Brüder als Söhne eines Akademikers nicht zur weiterführenden Oberschule zugelassen wurden. Man untermauerte das Verbot mit der Möglichkeit einer “ strahlenden Zukunft” bei der russischen Wismut.

Im Oktober 1953 geschah das unerwartete Wunder. Unser Vater wurde entgegen aller üblichen Parteiregularien aus seiner russischen Gefangenschaft, in der DDR neu eingekleidet, nach Hof in Bayern entlassen. Auch hier hatte meine Mutter mit versteckten Hinweisen auf den vom Internationalen Roten Kreuz ausgegebenen Kriegsgefangenenkarten das erwünschte Ziel seiner langen Reise angegeben und damit eine zügige Zusammenführung der Familie ermöglicht. Der Kontakt zu Freunden und Verwandten in der zurück gelassenen “DDR” blieb bestehen und konnte nach dem Studium mit meinem beruflichen Start 1967 in Westberlin trotz der Mauer auch intensiviert werden.

Vielleicht war es der Charme der eingemauerten Stadt, die meine dann ebenfalls nach dem Studium zugereiste Verlobte, veranlasste, ihrer Heimatstadt Essen den Rücken zu kehren und mit mir gemeinsam eine Familie mit inzwischen drei Söhnen und fünf Enkeln zu gründen. In diesem Jahr feierten unsere Zwillinge ihren 40. Geburtstag und unser jüngster Sohn hat nach dem Studium in Cottbus mit einer Kommilitonin aus Schlieben (Brandenburg) in Shanghai ebenfalls eine Familie gegründet und uns nach vier männlichen Enkeln in Hamburg und Berlin mit Hannah die erste Enkelin beschert.    Was hat das aber alles mit dem zweitschönsten Tag, nach der Heimkehr unseres Vaters aus der Russischen Kriegsgefangenschaft, zu tun? Als inzwischen gelernte “ Westberliner “ verfolgten wir das Geschehen in der DDR beruflich und privat mit großem Interesse. Und bei jedem Westbesuch, den wir an die Mauer und das Brandenburger Tor führten, setzte sich im Kopf der Wunsch fest, einmal durch das Brandenburger Tor gehen zu können.  In meiner Eigenschaft als Geschäftsführer des Britzer Gartens war ich locker in das kommunale Geschehen des Bezirkes Neukölln über den Bezirksbürgermeister und dessen Pressesprecher, Herrn Warweg, eingebunden. Dies führte auch im Sommer zu einer Einladung in die Kindl Brauerei und am 9. November zur Geburtstagsfeier von Ulrich Schamoni in die Kindl Festsäle. Während dieser Feier am 9. November 1989 platzte mit dem Eintreffen bekannter DDR- Künstler die Nachricht über gravierende Erleichterungen der Reisebeschränkungen. Damit war die Feier beendet und alles machte sich auf zur Mauer.   Unser Weg führte zunächst zum Chekpoint Charlie, dem Ausländerübergang in der Friedrichstraße. Dort erlebten wir dichtgedrängt und hautnah die Todesangst eines jungen DDR-Grenzoffiziers, den man in der Hektik der lachenden und mit Sektflaschen ausgestatteten Westberliner bei der Schließung des Stahltores nach der Durchfahrt eines Japanischen Diplomaten vergessen hatte. Mit Hilfe einiger inzwischen auf der Mauer sitzenden jungen Berliner konnten die nervösen Grenzwächterwächter zur erneuten Öffnung des Tores ermuntert werden, um den angsterfüllten, inzwischen aber mützenlosen Offizier, die Rückkehr zu ermöglichen.

Unser nächstes Ziel war wegen der inzwischen beängstigenden Enge am Checkpoint die Aussichtplattform am Brandenburger Tor. Die Menschenansammlung vor der Mauer war zu diesem Zeitpunkt noch überschaubar, aber innerhalb weniger Minuten besetzten sie die breite Mauerkrone. Trotz unserer festlichen Garderobe ließen wir uns ebenfall auf die Mauerkrone helfen und genossen zunächst den Blick durch das offene Tor auf den Pariser Platz. Links und rechts vom Tor waren allerdings die in kriegsmäßiger Ausrüstung mit vorgehängter Maschinenpistole Mann an Mann stehenden Grenzsoldaten in Reihe aufgestellt.

Bei diesem Anblick ging mir ein Gespräch aus dem August 1989 mit einem ebenfalls geladenen hohen Diplomaten der Sowjetischen Botschaft in Ostberlin anlässlich dieser schon genannten Geburtstagsfeier in der Kindl Brauerei durch den Kopf. Der Diplomat hatte mir damals auf mein Befragen hin erklärt, dass mit dem beabsichtigten Besuch von Gorbatschow zur 40 - Jahrfeier der DDR nichts Vergleichbares wie in Peking, nämlich ein militärischer Einsatz gegen Demonstranten, zu erwarten sei. Wörtlich in bestem Deutsch: “Es sind Vorkehrungen getroffen, dass sich so etwas nicht wiederholt!” Leider habe ich den Namen des Diplomaten nicht behalten, sein Besuch sollte wohl auch nicht zu öffentlich werden.

Nach einer kurzen Erklärung gegenüber meiner Frau sprang ich von der Mauer auf den leeren, allerdings seitlich von Grenzsoldaten abgesperrten Platz, ging langsam durch die Mitte des Brandenburger Tores und zurück zur Mauer.  Es bedurfte nur einer kurzen Überredung und meine Frau sprang ebenfalls von der Mauerkrone und wir beiden waren sicher die ersten Westberliner, die sich einen ihrer größten Wünsche erfüllten und trotz der Soldaten mittig durch das bisher unzugängliche Brandenburger Tor gingen! Die Prophezeiung des sowjetischen Diplomaten hatten sich glücklicherweise bewahrheitet und mit einem beglückenden Gefühl zogen uns hilfreiche Hände wieder auf die Mauer. Mantel und Anzug waren dahin, aber der Vorwurf unserer Söhne, weil wir sie nicht geweckt hatten, wird uns wohl ewig begleiten.

In der Euphorie dieses Abends hatten wir allerdings die zeitliche Zuordnung verloren. Dies alles müsste sich zwischen 21 und 22 Uhr abgespielt haben. Kurz nach unserem Spaziergang durch das Brandenburger Tor rückten die Grenzsoldaten vor und unterbanden weitere Besuche. Und in der Dunkelheit blitzten die Kreuze der Maueropfer in Nähe des Reichstages als Mahnung am Wegrand auf! Für uns beide war und ist dieser Spaziergang auch heute noch das schönste Erlebnis, vor allem dann, wenn wir das Brandenburger Tor allein oder mit unseren Gästen durchqueren und uns dabei die Dramatik des 9. November 1989 in Erinnerung gerufen wird.

Aber auch beruflich erhielt ich die Chance, alte und ungute Erinnerungen z.B. an die ehemalige Sowjetische Wismut AG, mit positiven Erfahrungen der neuen Wismut GmbH auszutauschen. Als ehemaliger Geschäftführer der Bundesgartenschau 2007 konnte ich in einer von der Wismut zerstörten Landschaft in Gera und Ronneburg verantwortlich an der Wiederherstellung und Umwandlung dieses ehemaligen Sperrgebietes mitwirken.

Das vergilbte Extrablatt des Tagesspiegels vom 10. November 1989 wird uns deshalb auch in Zukunft an diese Erlebnisse erinnern. Ein erfreulicher Anblick!

Ernst-Hermann Kubitz

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