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Euphorie und Beklemmung: Alles geht so schnell

Tagesspiegel-Leser Andreas Weiser schrieb direkt nach dem Mauerfall seine Gedanken zu dem historischen Ereignis und den Folgen auf. Unbeschwert fühlte er sich nicht.

“Die menschliche Erinnerung i st ein wunderbares, aber unzuverlässiges Instrument (...) Der beste Weg, sich vor dem Ansturm belastender Erinnerungen zu schützen ist der, sie gar nicht erst hereinzulassen und eine Hygieneschranke entlang der Grenze zu errichten," Primo Levi , ein italienischer Jude, wusste wovon er sprach. Er war in Auschwitz. Ein Jahr lang. Er überlebte das Inferno, vorerst. Bis ihn die Last des Erlebten in den Selbstmord trieb.

Ich lese gerade sein Buch "Ist das ein Mensch?", dessen aberwitzige Realität meine Gedanken und Gefühle 45 Jahre zurückzwingen, in die Barracken von Auschwitz, da erfahre ich, die Mauer" ist gefallen. Die Grenzen sind offen. Die Deutschen sind wieder ein Volk, Auschwitz wird zugeklappt, der Ku'damm ruft. Die ersten Trabis kommen. Die Ostler weinen vor Glück, schwenken ihre Pässe. Die Westler verteilen Sekt, Geldscheine, Blumen und Bier. Sie klatschen und jubeln. Deutschlandfahnen wehen. Es wird gesungen.

Endlich, wir sind wieder wir.. Hinter stinkenden, dreckigen Trabis donnern alIradgetriebene, chromblitzende Yuppikarossen den Ku'damm rauf und runter. Wir gehören doch alle zusammen. Es tut mir leid, aber es will sich bei mir keine Euphorie einstellen. Kaum Freude. Bin ich denn kein Deutscher? Begreife ich denn nicht, welch unglaubliches Glück sich hier und jetzt gerade vor meinen Augen abspielt. Mir ist beklommen. Alles geht so schnell, so schnell,

Am nächsten Tag, der Freitag, bin ich am Brandenburger Tor. Tausende kleben auf der Mauer und skandieren: "Die Mauer muss weg". Willy Brandt kommt. Die auf der Mauer rufen: "Willy auf die Mauer" und "Willy,Willy".  Brandt, man sieht es ihm an, ist tief bewegt. Das bewegt auch mich. Er, der Altbundeskanzler und Architekt der Ost-West-Entspannungspolitik scheint am Ziel seiner Ziele. Aber er sagt, das sei erst der Anfang, man sei noch lange nicht am Ziel, es werde noch schwierig werden. Als Walter Momper zu einer Kundgebung am Schöneberger Rathaus aufruft, schallt es hundertfach zurück:“Hier, macht die Demo hier, direkt vor der Mauer.“ Die Masse ist Emotion. Seltsam, mir ist beklommen.

Samstagnacht. 2 Uhr dreißig. Die Innenstadt ein Chaos . AIles voller Bier- und Coladosen.Sektflaschen kreisen. Alkohol fließt in Strömen. Zehntausende sind auf den Beinen. Die Sexshops quellen über. Nasen werden an Schaufenstern platt gedrückt. Eine riesige Masse trauriger, grauer und ungläubig staunender Gesichter. Ich komme mir verloren vor. Die Medien sprechen von einer riesigen Party, sie sprechen von Ausgelassenheit, Die Realität der TV-Kameras rührt mich. Gehe ich selbst auf die Stresse, lasse meine eigenen Augen sehen, ist mir beklommen.

Es tut mir leid, der Wind, der da weht, ist dumpf und muffig. Plötzlich befreite, hunderttausendfach verdrängte Trauer und Wut. Von einem Augenblick auf den anderen freigesetzt. Orientierungslos und noch sprachlos. Sind das hier wirklich die, die sich in Leipzig ihr Recht erkämpften?

Sonntagmittag. Kreuzberg. Kottbusser Tor. Vor der Commerzbank eine Schlange, in Dreierreihen und etwa 700 Meter lang. Vor der gegenüberliegenden Sparkasse ein Riesenpulk von DDR-Menschen. Man wartet auf das HundertmarkaImosen: Das Begrüßungsgeld. Die U-Bahn ist hoffnungslos überfüllt, Kaufen, endlich kaufen und haben will man. Doch, und das ist irgendwie seltsam, nur einige wenige clevere Geschäftsleute haben die Gunst der Stunde begriffen und ihre Second-Hand- und Jeansläden geöffnet.Von den Massen überrollt. Ich lerne: Auch der Kapitalismus kennt seine Schrecksekunden. Beruhigend, irgendwie, wenn's auch wirklich nur Sekunden sind. Like a rolling stone. Stonewashed.

Die Atmosphäre, die über dem Kotti liegt, ist so verstopft, wie die U-Bahn. Eine Party? Ein Polskifiat tuckert vorbei. Ein paar DDRler rufen halblaut, ihren Gefühlen nur bedingt und noch unsicher nachgebend: "Dreckspollacken". Eine Westberlinerin, an der Hand zwei Kinder und der Kleidung nach zu urteilen offensichtlich der alternativen Szene zugehörig, erzählt einigermaßen aufgelöst, sie werde ununterbrochen angeglotzt.. Und gestern abend in der U-Bahn hätten ihr ein paar Ostler gesagt: "Wenn du nicht eine Frau wärst, würd ich dich abstechen, du grünes Schwein". Offene und versteckte Aggression auf das, was man nie leben durfte, auf das was anders ist. Ausnahmen? Ausländer sind in diesen Tagen nicht zu sehen. Sie scheinen wie vom Erdboden  verschluckt. Alles ist in ost-westdeutscher Hand. Die multikuIturelle Gesellschaft nur noch ein Traum?

Sonntagnachmittag, Breitscheidplatz. Die Schrecksekunde ist vorbei: Der erste Fix, der erste Schuß. Coca Cola,Pepsi, alle möglichen Lebensrnittel, Hamburger, billige Konfektionsware und so weiter wird generös an die „Ausgemergelten“ verteilt. Die Dealer, jetzt sind sie da. Sie sind immer und überall sehr schnell und hilfsbereit, wenn es ums Anfixen, um den Deal geht. Business äs usual, deutschlandgeschwängert. Ein junger Ostler kommt vorbei, nimmt einen Zug aus der Sektpulle, fragt nach dem Ku'damm und bemerkt beim Weiterziehen:“ Jetzt werden se uns aufkaufen“.

Montag früh: Bei Wertheim werden die Plastiktüten fein säuberlich zusammengefaltet und in den zerschlissenen  Nappaledereinkaufstaschen verstaut. Einzelne Yoghurtbecher oder ein paar Bananen rollen in viel zu großen Einkaufswagen zu den Schlangen an den Kassen. Immer noch ist dem einsamen westlichen Wichser die Lust am Frust im Pornokino genommen, weil Kabinen nicht mehr schamhaft verschlossen, sondern offen und überfüllt mit Ostfamilien zweckentfremdet werden. Der erste große Rausch aber ist vorbei. Der Nächste wird kommen. Diesmal aber, so heißt es, besser organisiert. Und die Kater, die folgen werden, wie wird das zu organisieren sein? Wie bitter wird das Aspirin schmecken, und wieviel davon wird notwendig sein? Was werden die tun, d ie jetzt am lautesten gejubelt haben, mit Sekt und Geldscheinen so generös um sich schmissen, wenn es denn um die eigentliche Pründe geht?

Solange die Polen noch fern waren, überschlug man sich in Berlin In Mitmenschlichkeit und Paketeverschicken. Jetzt da sie schon seit geraumer Zeit die Stadt mit ihrer aus Not geborenen Händlerleidenschaft prägen, haben schon viele wieder vergessen, wie kalt polnische Winter sein können. Wird die Solidarität mit unseren verarmten Brüdern und Schwestern andauern, auch wenn sie sich all das beschaffen werden, von dem wir glauben, es stehe uns wie selbstverständlich zu? Ein Mitglied des "Neuen Forum" sitzt während dieser Tage in einen ARD-Studio, Er wirkt zerknirscht: „Das geht alles viel zu schnell", sagt er, "wenn eine Lok, die einen Zug von hinten anschiebt, zu stark drückt, wird der Zug entgleisen,"

Ich denke in diesen Tagen oft an das Bild eines Verdurstenden in der Wüste. Findet der endlich Wasser und trinkt es zu schnell, zu gierig und ohne Bewusstsein, wird er im bestmöglichen Fall der Fälle alsbald unter gewaltigen Krämpfen zu leiden haben. Krämpfe, ausgelöst durch etwas, wovon er sich Leben versprach.

Andreas Weiser

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