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Ohne Passierschein: Einreise mit Hindernissen

Während am Abend des 9. November Tausende Ost-Berliner in den Westteil der Stadt strömten, wählte Tagesspiegel-Leser Wulf Bauerfeld die entgegengesetzte Richtung. Aber an diesem Abend sollte die Einreise schwieriger sein als die Ausreise.

„Den erschießen die doch!“ war der lautstarke Kommentar einer West- Berlinerin, nachdem mich ein SFB-Reporter nach dem Woher und Wohin gefragt hatte. Dass ausgerechnet ich das erste Opfer der friedlichen  Revolution werden sollte, mochte ich nicht glauben.

Es war ein relativ warmer November-Abend, auch nach 23 Uhr konnte ich mit meinem alten VW-Cabrio „offen“ fahren. Was heißt  fahren, vorwärts schleichen - der fröhlichen und freundlichen  Menschenbewegung auf der Bösebrücke entgegen. Drei oder vie Stunden vorher hatte  Günter Schabowski seine Notiz verlesen und ich mich kurz darauf voll  Neugier und mit dem inneren Auftrag "Reisefreiheit für alle" auf den Weg gemacht, zunächst zum Grenzübergang Heinrich-Heine- Str.: West-Berlin unbeachtet zu verlassen war wie immer kein Problem.  Drüben wurde allerdings mein Begehren, in die „Hauptstadt“ einzureisen,  abschlägig beschieden. Außer meinem „Behelfsmäßigen Personalausweis“  hatte ich keine weiteren „Einreisedokumente“ dabei. Nächster Grenzübergang – Chausseestr.  – dieselbe Ruhe westlich, dasselbe  strahlende Licht aus Bogenlampen östlich, dieselbe Frage, dieselbe  bestimmte und erwartbare Zürückweisung.

Im Westen des dritten Grenzübergangs jubelte bereits der Osten;  vorsichtig bugsierte ich  mein Auto in Richtung der Entgegenkommenden,  sie lachten und winkten mir zu. Ich fragte immer wieder – so jeden  hundertsten oder auch fünfhundertsten: „Komme ich da vorne denn  überhaupt durch?“ „Klar, ist alles offen!“ Dem mikro-haltenden SFB-Reporter vor der Brücke erklärte ich kurz das „Warum“ dieser zur  Mitternachtsstunde ungewöhnlichen Reisezeit, dass ich kein verspäteter  Diplomat sei und nur Reiserecht auch für Westberliner, wohin und wann immer wolle. Wenn die anderen hinaus dürfen, will ich hinein, endlich einmal ohne umständliche Prozeduren. „Den erschießen die doch“ – nee, nee junge Frau, den  lauten Knall konnte sich in dieser Nacht an diesem Übergang niemand  leisten. Hinter der Brücke stand er dann vor mir – er ohne Mikrofon,  aber in Grün, etwas altmodisch gekleidet, akkurat und mit Dienstmütze. Er bedeutete mir mit gebieterischer  Handbewegung zu halten. „Hier ist keine Einreisespur für PKW, bitte  fahren Sie rechts zur Einreisestelle und halten Sie Ihre  Reisedokumente bereit“.

Vor mir die sonst fest verrammelten, jetzt weit geöffneten Tore mit  den einströmenden Menschen, rechts die wohlbekannte Baracke mit dem  Vorzeigefenster, den Stempelkissen, der nervenden Zollkontrolle, der  Umtauschpflicht, in meiner Brieftasche nur der „Behelfsmäßige  Personalausweis“ und Fahrzeugpapiere. Ich versuchte zu verhandeln: von  Ost nach West ging es doch mittlerweile ohne Probleme, warum aber immer noch von West nach Ost.  Die Einreiseregelung in die DDR bleibe so wie bisher. „Fahren Sie bitte rechts raus!“ – Ich aber ein Stückchen  geradeaus. Heute sei doch ein ganz besonderer Tag, und ich würde ihn bei  seinem Vorgesetzten auch nicht verpfeifen ... „Fahren Sie bitte nach  rechts zur Einreisekontrolle für Pkw ..." Ich noch ein Stückchen weiter  geradeaus. Angerempelt und fast umgerannt wurde der arme Mann von  seinen westwärts strebenden Landsleuten – mich ließen sie daher wieder  ein Stückchen geradeaus fahren.

Nach der Pensionierung könne er  erzählen, dass er sogar einen Westberliner im Auto ohne Papiere  einreisen ließ. „Fahren Sie nach rechts, dort ist die  Einreiseskontrolle“ ... ich ein Stückchen weiter geradeaus. Meine  Mitleid erheischende Krankengeschichte,  ich hätte einen fürchterlichen  Krampf in beiden Armen und könne nicht mehr lenken unterbrach er,  indem er durch das offene Fenster ins Lenkrad griff: “Fahren Sie jetzt  sofort nach rechts, hier dürfen Sie ohne Einreisepapier auf keinen  Fall durch“. Meine Antwort war keck und wirkungsvoll von einem leichten Schlag auf die dem Inneren meines Autos fremden Finger  begleitet: „Nehmen Sie die Hände von meinem Steuer, ich weiß ja nicht  einmal, ob Sie überhaupt einen Führerschein haben“. Beschleunigt hat  dieser Satz den Untergang der DDR sicher nicht, aber ich war ihn los  und endlich frei – im Osten.

Vielleicht erinnert sich noch die junge Mutter mit Kind an mich. Ich  brachte sie nach Hause, weit hinter der Schönhauser Allee, entlang  einer mittlerweile schier endlosen Schlange von vielen Trabants und wenigen  Wartburgs. Beide waren nur kurz im Westen gewesen um dort Luft zu  schnuppern und ein bisschen enttäuscht. Aber sie habe es wenigstens  einmal ausgenutzt und wer wisse, ob es überhaupt noch mal klappt und  dann könne man vielleicht nie mehr zurück .

Dort wo die Bornholmer schon lange Wisbyer heißt, konnte ich mich  dann hinten anstellen. Sicher erinnern sich die vielen „Trabi“-Insassen mit  denen ich als einziger "West-Wagen" in einer endlos langen Schlange stand. Sie reisten aus,  ich wollte wieder einreisen. „Wir treffen uns auf dem Kurfürstendamm“  war die Verabredung, jedes Mal mit einem Schluck süß-klebrigen Sektes  begleitet. Ich fuhr noch immer offen und so war die Kommunikation und die Herzlichkeit kein Problem –„Kann ich mal ein Stückchen mitfahren –  ich saß noch nie in einem Cabrio“. Alle paar Meter wechselten die  neugierigen Fahrgäste, alle paar Meter gab es wieder einen Schluck,  aber nur einen winzigen.

Als wir uns meterweise dem Wohnhaus meiner Ostberliner Freunde in der  Bornholmer Straße  – circa 800 m östlich des Grenzübergangs näherten –  meldete ich mich beim Hintermann, dass ich da mal eben klingeln und  „Guten Tag“ sagen müsse. Der meldete seinem Hintermann, dass vorne mal  eben einer klingeln gehe, der wieder seinem Hintermann, dass es mal eben  nicht weitergehe.  Alsich nach vergeblichem Kontaktversuch –  die Freunde waren unterwegs nach West-Berlin -   wieder zur Straße  zurückehrte, gähnte eine mindestens 100 Meter lange Lücke vor meinem  Auto. Niemand hatte sich vorbeigedrängelt und ich wurde mit fröhlichem  Jubel begrüßt: „Wir treffen uns auf dem Kurfürstendamm“.

Die Ausreise – erschossen war ich nun nicht, aber vielleicht werd' ich  drin behalten im grauen Staat - war unspektakulär: „Nächstes Mal  führen Sie aber wieder die notwendigen Dokumente mit“. Ich nickte,  machte mich auf zum Kurfürstendamm – versprochen war versprochen. Der  war voll und ich erst weit nach siebenim Bett. Um acht weckte mich das Telefon „Die Grenze ist offen“ verlautbarte mit vermeintlichem  Wissensvorsprung mein Vater. „Ich weiß“, gähnte ich, „ich war drüben,  mit’m Auto“. „Aber Du hattest doch gar keinen Passierschein“. „Ach,  neuerdings klappt’s auch ohne“.

Wulf Bauerfeld

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