zum Hauptinhalt
Reinhard Strecker ermittelte Richter und Staatsanwälte, die an NS-Gerichtsurteilen mitwirkten.

© H.J. Lind

Rechtsgeschichte: Ein Rennen gegen die Zeit und die Verjährung von NS-Unrecht

Vor 65 Jahren wurde auf Initiative des Studenten der Freien Universität Reinhard Strecker die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Justizverbrechen zum öffentlichen Thema gemacht

Von Jochen Staadt

Im Frühjahr 1959 durchforstete eine studentische Arbeitsgruppe der Freien Universität in einer Steglitzer Wohnung NS-Gerichtsurteile und Anklageschriften. Reinhard Strecker, Student der indogermanischen Sprachen und Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), hatte die Dokumente aus polnischen, tschechischen und DDR-Archiven erhalten. Auf seine Initiative hin bereitete der Berliner SDS eine Ausstellung vor, die unter dem Titel „Ungesühnte Nazijustiz“ erstmals dokumentieren sollte, welche Richter und Staatsanwälte, die an Todesurteilen der Nazi-Justiz mitgewirkt hatten, nun als Beamte im bundesdeutschen Justizdienst unbehelligt weiter beschäftigt waren.

Mehr als 50.000 Todesurteile hatten NS-Gerichte bis 1945 gefällt, 80 Prozent der damaligen Richter und Staatsanwälte waren NSDAP-Mitglieder gewesen. Im Jahr 1959 arbeiteten noch mehr als 1000 ehemalige NS-Juristen im westdeutschen Justizdienst. Diesen skandalösen Zustand wollten Reinhard Strecker und seine Recherchegruppe durch ihre Ausstellung einer breiten Öffentlichkeit bekannt machen.

Die aus den Dokumenten ermittelten Namen von NS-Richtern und -Staatsanwälten verbreitete der SDS-Bundesvorstand in den örtlichen SDS-Gruppen – verbunden mit der Aufforderung, in Telefonbüchern nach dem aktuellen Wohnort dieser Juristen und ihrer Funktion in der westdeutschen Rechtspflege zu recherchieren. Die Zeit drängte, denn die Schau sollte im Herbst 1959 eröffnet werden, da für Totschlagsdelikte die Verjährungsfrist im Mai 1960 eintreten würde. Im Auftrag des SDS-Bundesvorstands erstattete Strecker im Vorfeld der Ausstellung deswegen Strafanzeige gegen 43 amtierende Richter und Staatsanwälte wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Proteste gegen ein Gastspiel

Die Solidarität mit Israel und das Engagement gegen Antisemitismus gehörte seit den frühen 1950er-Jahren zu den Grundanliegen der Freien Universität Berlin. So rief der Allgemeine Studenten-Ausschuss (AStA) im Dezember 1950 erfolgreich zum Protest gegen ein Gastspiel des Wiener Burgtheaters mit dem Schauspieler Werner Krauss auf, der als Hauptdarsteller an dem antisemitischen Nazi-Propagandafilm „Jud Süß“ von Veit Harlan mitgewirkt hatte.

Das Burgtheater brach daraufhin sein Gastspiel in Berlin ab. Nach studentischen Protesten stoppten etliche Kinobesitzer auch Vorführungen des ersten Nachkriegsfilms von Veit Harlan „Unsterbliche Geliebte“. Im Februar 1951 beschloss der studentische Konvent der Freien Universität ein Betätigungsverbot für Vereinigungen, „die den Antisemitismus verbreiten, fördern oder billigen“ auf dem Hochschulcampus.

In Auswertung der Aktion „Frieden mit Israel“ kam eine Konferenz der SDS-Gruppenvorsitzenden im Mai 1952 zu dem Ergebnis, die Reaktionen auf die Anti-Harlan-Demonstrationen hätten gezeigt, „dass der Antisemitismus im Erstarken sei“. Im Berliner SDS leitete Reinhard Strecker seit Mitte der 1960er-Jahre einen Arbeitskreis zum Thema Nationalsozialismus. Im Berliner SDS war in den 1950er-Jahren auch die Idee geboren worden, sich mit den im westdeutschen Justizdienst beschäftigten ehemaligen NS-Juristen genauer zu befassen.

Ausstellung am Kurfürstendamm

Am Sitz des Bundesgerichtshofs eröffnete der Karlsruher SDS mit Reinhard Strecker am 27. November 1959 dann die Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“. Nach dieser ersten Station sollte die Wanderausstellung im Henry-Ford-Bau der Freien Universität gezeigt werden. Auf Druck des Berliner Senats stellten jedoch weder die Freie noch die Technische Universität Berlin Räume zur Verfügung.

Die Ausstellung wurde daraufhin im Februar 1960 in der Galerie Springer am Berliner Kurfürstendamm gezeigt. Die Schirmherrschaft übernahmen Margherita von Brentano, damals Assistentin am Institut für Philosophie der Freien Universität, später dort Professorin und erste Vizepräsidentin der Hochschule, sowie die Professoren der Freien Universität Ossip K. Flechtheim und Helmut Gollwitzer und der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Heinz Galinski.

Der Senator für Wissenschaft und Kunst, Professor Joachim Tiburtius (SPD), begründete sein Verbot der Ausstellung an den Berliner Universitäten mit der Behauptung, es handele sich um eine von der DDR inszenierte Kampagne gegen die Bundesrepublik Deutschland. Generalbundesanwalt Max Gude bestätigte jedoch nach Überprüfung der Ausstellungsdokumente 1960 deren Authentizität.

Bis 1961 wurde keiner verurteilt

Im Unterschied zu Polen und der Tschechoslowakei hatte die DDR Reinhard Strecker den ungehinderten Zugang zu ihren Archiven verwehrt, und bei dieser Verweigerung blieb es: Nach einem Gespräch mit Gerhard Dengler vom Nationalrat der DDR, in dem Reinhard Strecker 1962 auf die großzügige Unterstützung durch polnische Archive hinwies, wurde von Dengler entschieden: „Strecker erhält von uns keine Übersicht über die bei uns vorhandenen Materialien.“

Das Misstrauen der DDR-Instanzen basierte vor allem auf Streckers Engagement für Studentinnen und Studenten der Freien Universität, die als Fluchthelfer in DDR-Gefängnissen saßen. Vermutlich aber befürchteten die mit NS-Dokumenten befassten DDR-Staatsarchivare – sie waren überwiegend inoffizielle Staatssicherheitsleute – Reinhard Strecker könnte auf die Weiterverwendung ehemaliger NS-Funktionäre im DDR-Staatsapparat stoßen. Auch Reinhard Streckers Verhandlungspartner Gerhard Dengler hatte nämlich eine solche Vergangenheit.

Die Wanderausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ avancierte in zehn deutschen Universitätsstädten und auch in den Niederlanden und Großbritannien zu einem Publikumsmagneten. Es ist heute unbestritten, dass diese Ausstellung die intensive Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit von Beamten im westdeutschen Staatsdienst einleitete, und es ist durch jüngere Forschungen bekannt, dass es nur die Spitze des Eisbergs war, die Reinhard Strecker und seine Unterstützer damals offengelegt hatten. Im Jahr 1961 waren noch mehr als 1000 ehemalige NS-Juristen an der westdeutschen Rechtsprechung beteiligt. Verurteilt wurde keiner von ihnen.

Verdienste für Aufarbeitung

Der Vorwurf gegen Reinhard Strecker, er habe sich mit der Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ von der DDR-Propaganda missbrauchen lassen, war unbegründet. Allerdings beteiligte sich Strecker, vermutlich unwissend, 1969 an einer Desinformationskampagne des DDR-Staatssicherheitsdienstes: Am 2. Oktober 1969 erschien in der Zeitschrift „konkret“ unter der Überschrift „Giftgas für die Bundeswehr“ ein reißerisch aufgemachter Artikel von Günter Wallraff, Reinhard Strecker und Manfred Gfellschild, in dem mehr als 80 Universitätsinstitute und zahlreiche Einrichtungen der Fraunhofer-Gesellschaft bezichtigt wurden, im Auftrag des Bundesverteidigungsministeriums biologische und chemische Waffen zu entwickeln.

Unter den namentlich und zu Unrecht angegriffenen Wissenschaftlern befand sich auch der Professor für Veterinärpharmakologie Helmut Kewitz der Freien Universität Berlin, einer ihrer Gründungsstudenten. Reinhard Strecker hat sich später nie bei Helmut Kewitz für die Falschbehauptung entschuldigt. Das schmälert jedoch nicht seine Verdienste für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit westdeutscher Justizbeamter.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false