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Von der Natur lernen und stärker praxisbezogen arbeiten: Grüne Chemie stellt neue Fragen an die Produkte.

© Marina Kosmalla

Über den Tellerrand hinaus: Wie das Fach Chemie nachhaltig werden kann

Teil des Chemiestudiums an der Freien Universität Berlin sind künftig Lehr-Module zur „Grünen Chemie“.

Von Catarina Pietschmann

Wenn man die „notwendigen Übel“ des Grundstudiums abgehakt hat – Vorlesungen und Klausuren in Mathematik und Physik – kann Chemie schnell faszinierend werden. Eine ganz eigene Welt tut sich auf: Aus Strukturformeln, thermodynamischen Bedingungen, ausgefeilten Reaktionsmechanismen und unzähligen Namensreaktionen zum Beispiel, wenn es in der Organischen Chemie um die Synthesewege zu komplexen Naturstoffen, Kunststoffen oder Arzneimitteln geht. Spätestens da ist jedem Studierenden klar, dass Chemie die Basis von wirklich allem Stofflichen ist. Ob nun vom Blatt am Baum oder dem eigenen Körper. Vom Kugelschreiber über das Smartphone bis hin zu Jeans und Duschgel. Und natürlich auch dem Mensa-Essen.

All das detaillierte Fachwissen und dessen erste Anwendung in diversen Praktika dient in der Regel letztlich einem Ziel: Als Chemikerin oder Chemiker, zumeist mit Promotion, in einem Unternehmen innovative Produkte für den Alltag, die Medizin oder zukunftsweisende Technologien zu entwickeln. Doch im 21. Jahrhundert, in dem sich Plastikpartikel in allen Böden, Gewässern und selbst in Kleinstlebewesen finden, in dem sich Plastikmüllberge auftürmen, in dem Äcker und Flüsse überdüngt sind und der Klimawandel stetig an Fahrt aufnimmt, geht es nicht mehr nur um Innovation allein. Hinter allem steht längst die Frage: Kriegen wir das auch nachhaltig hin?

Von der Natur lernen

Nachhaltigkeit und Grüne Chemie – was bedeutet das? Der Begriff Green Chemistry geht auf den amerikanischen Chemiker John Charles Warner und Paul Anastas zurück. Ihr Grundgedanke: In der Natur haben sich seit 3,8 Milliarden Jahren alle Substanzen immer wieder in Lebenskreisläufen bewähren müssen. Die moderne Chemie – es gibt sie erst seit 250 Jahren – kann in puncto Nachhaltigkeit von der Natur also einiges lernen. Für Chemikerinnen und Chemiker bedeutet das: Wege zu finden, wie sie weniger giftige Substanzen entwickeln können, die sich umweltfreundlicher aus möglichst erneuerbaren Ressourcen herstellen lassen. Und das möglichst energieeffizient und mit möglichst wenig Abfall.

Kailey Sun Marcus, Masterstudentin an der Freien Universität, hörte 2018 Warners Gastvorlesung an der Technischen Universität (TU) Berlin. „Ich fand das Thema unglaublich wichtig und inspirierend. Aber gleichzeitig war ich frustriert, dass wir im Studium darüber nichts erfahren!“ Während eines Auslandsjahres an der University of California in Berkeley hatte sie die Möglichkeit selbst einen Kurs zum Thema zu leiten.

Über Grüne Chemie von Alltagsprodukten, wie etwa der Jeans. Wieder zurück in Berlin baute sie zusammen mit einer Kommilitonin an der TU die Projektwerkstatt Making Green auf. Gemeinsam mit Christoph Tzschucke, Professor für Organische Chemie und Katalyse an der Freien Universität, und Rüdiger Tiemann, Professor für Didaktik der Chemie an der Humboldt-Universität zu Berlin, konzipiert Kailey Sun Marcus nun ein Bachelor- und Master-Modul zur Grünen Chemie. Es entsteht als Teil des viel größeren GreenCHEM-Projektes, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Förderprogramms „T!Raum – Transferräume für die Zukunft von Regionen“ mit zunächst zehn Millionen Euro gefördert wird.

Unterstützt wird ein Konsortium aus den Berliner Exzellenz-Universitäten Freie Universität, Humboldt-Universität, Technische Universität, der Berlin Chemie AG und der Covestro AG sowie 24 Partnern aus Forschung und Wirtschaft in der Region Berlin-Brandenburg. Koordiniert durch Martin Rahmel enststeht ein sich selbst tragendes „Transferökosystem, das Berlin zu einem „Silicon Valley“ der Grünen Chemie macht.

Studierende werden noch immer sehr wissenschaftsorientiert ausgebildet

„Eine Stärke des Chemiestudiums – und zugleich ein großer Schwachpunkt – ist, dass Chemiestudierende sehr wissenschaftszentriert ausgebildet werden“, sagt Christoph Tzschucke. Wenn sie bei einem Unternehmen die Ökobilanz eines Produktes bewerten müssen, gehe es letztlich nicht um die Nachhaltigkeit einzelner chemischer Reaktionen, sondern eher um die Frage: Woher kommen die Ausgangsstoffe für das Produkt? Wie werden sie erzeugt? Welche Emissionen entstehen bei der Herstellung des Produktes, seiner Benutzung oder am Ende seines Lebenszyklus‘? Die Unterlagen für die Ökobilanz eines Produktes umfassen schnell 300 bis 400 Seiten und beschäftigen ganze Teams, die die Daten bewerten. „In unseren Kursen wollen wir alle notwendigen Punkte thematisieren, denn diese Kenntnisse sind das Handwerkszeug, das man braucht, um die Nachhaltigkeit eines Produkts bewerten zu können“, erläutert Christoph Tzschucke.

Neben Definitionen und Bewertungskriterien für Nachhaltigkeit werden Aufbau und Dynamik natürlicher Ressourcen – wie Wasser, Böden, Atmosphäre – und deren Verfügbarkeit Thema sein. Zudem geht es um Kunststoffe, Baustoffe, Basischemikalien – wie Ammoniak, Chlor, Natriumhydroxid, Methanol, Phenol und andere – und ihre Herstellungsverfahren, ihr Verhalten in der Umwelt und die mögliche Wiederverwertung. Diskussionsstoff wird der Punkt „Gesellschaftliche Zielkonflikte“ bieten. Denn preiswerte Massenprodukte – etwa im Fast-Fashion-Bereich – gehen häufig mit extrem hohem Ressourcenverbrauch einher.

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