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© U.S. Navy/Joshua Lee Kelsey/ddp

1. Februar 2010: Tag 15: Der leise Held von Haiti

Sean Blesh lebt seit drei Jahren in Port-au-Prince – der Amerikaner sorgt dafür, dass internationale Helfer helfen können

Meist hängt seine Sonnenbrille an einem Band um den Hals, ein Funkgerät und ein gefaltetes Hütchen am Gürtel, die Bauchtasche hat er nach hinten auf die Hüfte geschoben. Sean Blesh ist 41 und eigentlich der technische Direktor der Ecole Quisqueya, einer von amerikanischen Christen geführten Schule in Haitis vom Erdbeben heimgesuchten Hauptstadt Port-au-Prince. Doch seit dem 12. Januar ist der Amerikaner einer der stillen Helden der Katastrophe – von Sonnenaufgang bis spät in die Nacht wirbeln er und seine Kollegen, um medizinischen Helfern aus aller Welt die Arbeit im Chaos leichter zu machen. Nach vier Stunden Schlaf ist er schon wieder auf Posten. „Die Ärzte und Schwestern können effektiver arbeiten, wenn wir ihnen ihren Aufenthalt so angenehm wie möglich gestalten“, sagt Sean Blesh. Denn sie sollen „so vielen Haitianern wie möglich helfen“. Der verbliebenen Regierung von Haiti traut er das nicht zu. „Nach meinem Verständnis gibt es keine haitianische Regierung“, sagt er bitter. Blesh hat sich von den Deutschen auch schon ein Wort abgeschaut, das er abends kurz mal aus voller Kehle in die Runde brüllt: Scheiße. Faxen sind wichtig, wenn um einen rum alles zusammengebrochen ist.

Der Schulleiter hat nach dem Beben alle aus dem Kollegium gefragt, ob sie bleiben wollen. Wer bleiben wollte, musste sich in den Dienst dieser Aufgabe stellen. „Wenn du nicht mitarbeiten willst, kannst du nicht bleiben“, haben sie auch ihrem einheimischen Personal gesagt. Die von ihnen, die blieben, dürften zum Dank auch ihre Familien in die sicheren Mauern bringen. Man merkt dem kompakten Mann in Joggingschuhen seine Vergangenheit beim Militär an. Blesh war bei Desert Storm im Irak dabei. „Ich kenne einige der netten Plätze dieser Erde“, lächelt er in die Abendsonne. Blesh fackelt nicht lange, kommt direkt zur Sache. „Wir können uns nicht einen verschwendeten Augenblick leisten.“

Er hat mit dem Schulteam Unglaubliches auf die Beine gestellt. „Wir bieten alles an, was wir haben“, sagt Blesh. Seit drei Jahren ist der Computerspezialist in Haiti. Seine Frau Denise, die Töchter Chloe und Reagan, Pflegetochter Bethaina und Sohn Banning hat er nach der Katastrophe erst mal nach Florida geschickt, dort hilft ihnen eine Kirchengemeinde. Ihr Haus ist beim Beben stehengeblieben. Aber Freunde und Bekannte hat er verloren – dass ihm das sehr nahegeht, will er sich aber nicht gern anmerken lassen. Also stürzt er sich in die Organisation. Alle zwei Tage geht er nach seinen Hunden gucken, er schläft bei einem Kollegen. Alles, was nützlich sein könnte, hat er mitgebracht und gespendet. „Der Generator da vorne, das ist meiner.“ Auch Batterien, Waschmaschine und Trockner hat er in die Quisqueya geholt. Längst haben sie für die internationalen Helfer, die sie aufgenommen haben, einen Wäschedienst eingerichtet. Alle seine Computer hat Blesh in den oberen Räumen zu einer Hilfskoordinationszentrale umgebaut. Sogar W-Lan gibt es; zeitweise. Blesh ärgert sich. „Ich sage Internet, und dann geht es nicht? Das mag ich nicht.“ Aber auch er kann nicht immer zaubern. „Das Netz ist so klein, und hier sind so viele Leute.“ Und dann macht auch noch der Provider Probleme.

Nach zwei Wochen kommen Blesh und seine Kollegen an die Grenzen der Belastbarkeit. Physisch allemal.

Anfangs hatten sie nur eine Gruppe von knapp 30 deutschen Medizinern der Hilfsorganisation Humedica in einem Klassenraum untergebracht. Jeden Tag sind neue Menschen angekommen, amerikanische Rettungsteams, koreanische Ärzte, neun verschiedene Teams. Die Toiletten sind dem Ansturm nicht mehr wirklich gewachsen, aus der einen provisorischen Dusche haben sie jetzt in einer Hauruckaktion je sechs für Frauen und Männer gemacht – das Limit für jeden sind drei Minuten.

An der Essensausgabe sind die Schlangen inzwischen sehr lang. Aber immerhin: Es gibt hier jeden Tag etwas zu essen. Reis mit Bohnen oder Bohnen mit Reis, meist sogar ein Stückchen Huhn – und in der Früh manchmal Cornflakes oder Toast, inzwischen mit Erdnussbutter. Auch tagsüber kriegen die Helfer Toast und Wasser mit, oder sie essen Müsliriegel, die sie selbst mitgebracht haben.

Eine Spezialeinheit der US-Armee hat innerhalb von zwei Tagen den Sportplatz in ein Camp mit Zelten, Generatoren und vielen Lagerkisten verwandelt. Es ist eng geworden, Schlafplätze auf den Wiesen Mangelware. Blesh weiß das. Aber er hat sich zur Aufgabe gemacht, über sein Netzwerk zusammen mit dem Direktor, dem jungen Sportlehrer und den anderen den ausländischen Helfern zu helfen. Mittags isst Blesh einen Powerriegel, mit einem Becher in der Hand ist er sofort wieder auf dem Weg. Einen Wasserwagen organisieren, eine neue Gruppe begrüßen, Lebensmittel organisieren. „Wir kennen uns hier aus. Wenn wir etwas nicht kriegen, ruft ein Freund einen Freund und der wieder einen Freund an“, er ist stolz auf sein System. Blesh will jetzt mal einen Tag freinehmen. Aber zuerst soll die Schule wenigstens wieder im Kleinen laufen. „Wir haben hier 275 Kinder vom Kindergarten bis zur zwölften Klasse. Die meisten hatten wohl Glück, wir wissen nur von einem toten Schüler“, sagt Blesh. „Den Kindern gegenüber sind wir eine Verpflichtung eingegangen. Auch für sie müssen wir weiter da sein.“ Also haben sie die Medikamente und Verbände wieder aus der Kapelle geholt. Am Mittwoch sind die Kinder dort zum ersten Mal wieder zu ihrem Recht gekommen. „Danach können sie uns auch noch ein bisschen helfen“, grinst Blesh. Er selbst hat sich an diesem Tag aber trotzdem nicht freigenommen.

Auch Journalisten wollten sie in ihrem Compound aufnehmen. Aber weil das amerikanische Militär das Gelände mit seinem großen Sportplatz als Operationsbasis für sich entdeckte, durften sie nicht. Doch die Leute von der Schule fühlten sich verpflichtet. Ein paar hundert Meter weiter quartierte er die Medienleute in einer Wohnung ein. Das Haus dort ist stehengeblieben, doch Schlafplätze zeitweise rar. Nach mehreren Nachbeben ziehen auch die Berichterstatter nachts das Firmament als Dach vor. Jeden Abend versuchen sie, die Entfernungen zum grünen Rolltor gen Straße und den Mauern auf dem kleinen Hof abzuschätzen, bevor sie sich für ein paar Stunden Isomatte an Isomatte in die abschüssige Einfahrt legen und jeder in seinen Schlafsack krabbelt. Selbst den lauten Schnarchern versuchen sie etwas Positives abzugewinnen: Sie vertreiben sicher böse Geister - und halten die Hausratte auf Abstand. Nachts, manchmal bis um drei in der Früh, sind von umliegenden Grundstücken stundenlang Klagegesänge zu hören. Totenfeiern? Spätestens um sechs ist die Nacht für sie zu Ende, teils schon gegen kurz nach vier: Dann donnern schon vor dem ersten Tageslicht die Trucks wieder direkt an ihren Köpfen vorbei, verbreiten neue Staub- und Rußwolken. Die immerzu ratternden Generatoren der Amerikaner hören sie gar nicht mehr.

Jeden Tag kommen mehr Soldaten, der Sportplatz ist inzwischen Camp und Lager der Armee, stundenlang in gleißendes Flutlicht getaucht. „Sollten die USA das alles hier in Haiti übernehmen?“, fragt Blesh plötzlich. Um rasch ein „natürlich nicht“ hinterherzuschieben. Er ist wütend über die Lage der Haitianer, er weiß, dass die meisten nichts zu essen haben. „Die Leute sind verzweifelt.“ Vor ein paar Tagen hat er noch kein Sicherheitsproblem gesehen, jetzt wird er vorsichtiger. Hunger kann aggressiv machen. „In Haiti war es vorher schon schlecht, jetzt ist alles dahin, alles dahin. Die Menschen haben keinen Pass, sie haben kein Geld, und jetzt nicht mal mehr ein Haus. Nun wissen sie, wirklich, wo sie dran sind.“

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