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Panorama: "Botenstoffe": Waten in Marmelade

Er verabscheut die sichere Distanz nicht weniger als das gesponserte Experiment. Modische Posen für den risikolosen Erfolg sind ihm ebenso verhasst wie verklemmte Volksbildner.

Er verabscheut die sichere Distanz nicht weniger als das gesponserte Experiment. Modische Posen für den risikolosen Erfolg sind ihm ebenso verhasst wie verklemmte Volksbildner. Wenn Thomas Kling vom allseits beliebten "Abqualifizieren der ästhetischen Avantgarden" spricht, erfasst ihn, der von sich behauptet, gar kein "Avantgarde-Fetischist" zu sein, heiliger Zorn. Denn die einst von der Gruppe 47 gesetzten literarischen Maßstäbe geisterten, so Kling in seinem Essayband "Botenstoffe", immer noch durch Kritikerköpfe und seien dafür verantwortlich, dass die deutschsprachige Lyrik mindestens 15 Jahre auf der Stelle getreten sei.

Um dem von ihm konstatierten "Avantgarde-Bashing" entgegenzutreten, entwickelt Kling auf mehr als 200 Seiten ein polyphones, sprach- und poesiegeschichtliches Netzwerk. Provokant und selbstbewusst schlägt er den Bogen vom Barock-Gedicht des 17. Jahrhunderts bis zur spoken poetry dieser Tage. Dabei spart er nicht mit Lob und Tadel. In teils kritisch-essayistischen, teils assoziativ-polemischen Betrachtungen und Notaten legt er seine poetischen Wurzeln frei, offenbart Affinitäten und Parallelen zu Vorbildern und Kollegen und demontiert Autoren bis zur Kenntlichkeit.

Da ist dann von Ingeborg Bachmanns "artifizieller Schneewittchenhaftigkeit" ebenso die Rede wie vom "durchgeknallten" Konrad Bayer, von Brinkmanns "Prä-Trash-Ästhetik", von Marcel Beyers cooler Rhythmizität wie auch von den Lyrikern der 50er Jahre, denen er "ein angestrengtes Waten in Vierfruchtmarmalade" attestiert. Es sind die Kreise der Wiener, Kölner und Bielefelder Sprachskeptiker und Vertreter avancierter Literatur, denen sich Thomas Kling verbunden fühlt. Neben Ernst Jandl und Friederike Mayröcker ist es vor allem H. C. Artmann, dem er seine uneingeschränkte Verehrung entgegenbringt. Artmanns Verdienste um die (Wieder-)Entdeckung barocker Dichtung und dessen teilweise dialektalen Schöpfungen würdigt Kling ausführlich.

Interessant ist vor allem sein eigenes Dichtungsverständnis, das in Gesprächen, Erinnerungen und Notaten immer wieder aufscheint: So plädiert Thomas Kling für "richtige Bilder und zwar durchdachte", für eine urbane Umgangssprache, für die Reflexion zeit- und mediengeschichtlicher Entwicklungen, für das Ausprobieren alter und neuer Formen, für knallharte, gleichsam bodenständige Spracharbeit, für sprachgeschichtliche Studien und Analysen der lyrischen Tradition, die in die neuen Texte eingehen sollen, und für Darbietungsformen, die ganz der Kraft des Textes vertrauen und auf modischen Schnickschnack verzichten.

Das ist alles überaus anregend zu lesen, vieles sicher nur für die happy few, doch das entspricht, auch wenn Thomas Kling das anders sehen mag, doch dem Stellenwert, den avancierte Poesie heutzutage einnimmt. Aber wer weiß, vielleicht füllt sie noch mal die Stadien.

Thomas Kraft

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