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Panorama: Der zweite Mann

In Ipswich ist jetzt noch ein Verdächtiger verhaftet worden. Dabei dachte die Polizei tags zuvor, sie hätte den Täter schon

Gerade als die Briten die Morgenzeitungen aufschlugen, um sich eingehender mit dem als mutmaßlicher Prostituiertenmörder von Ipswich beschriebenen Tom Stephens zu befassen, rief die Polizei erneut zu einer Pressekonferenz. Mit wenigen lapidaren Sätzen ließ Chefermittler Stewart Gull die Bombe fallen: Um 5 Uhr morgens wurde ein 48-jähriger Mann in seiner Wohnung in Ipswich verhaftet „unter dem Verdacht, alle fünf Frauen ermordet zu haben“. Es ist nun schon der zweite Tatverdächtige. Fast mit denselben Worten hatte Gull am Tag zuvor die Verhaftung von Tom Stephens mitgeteilt – auch dabei strikt ohne Namensnennung. Aber die zu Hunderten in Ipswich eingefallenen Presse- und TV-Teams hatten ihn am Montag nach ein paar Stunden identifiziert. Denn Großbritanniens größte Verbrecherjagd seit Jahren ist zu einem Medienspektakel geworden, das alle Dimensionen sprengt. Die beiden 24-Stunden-News Kanäle BBC und Sky News berichten rund um die Uhr über nichts anderes mehr. Anklage hat die Polizei bisher in keinem Fall erhoben. Von Anfang an hatte Gull die Möglichkeit offengelassen, dass an der Tat mehrere Täter beteiligt waren. Doch seit den Verhaftungen sind seine Lippen fest geschlossen. Anders als die britische Presse will und darf Gull nichts sagen, was einen späteren Prozess präjudizieren könnte.

„Er hat eine große Nase, ein netter Mann, der einen blauen Ford Mondeo fuhr“, berichtet Lou über den zweiten Verhafteten. Sie ist eine der Frauen vom Ipswicher Straßenstrich, die in den letzten Wochen so oft im Fernsehen interviewt wurden, dass sie eifrigen TV-Zuschauern schon fast vertraut sind. Der am Dienstag Verhaftete ist alleinstehend, mietete an der London Road, unweit des Rotlichtbezirks, ein Zimmer und war, wie Stephens, mit mehreren der Prostituierten gut bekannt. „Ein regelmäßiger Kunde“, fand „Sky News“ heraus. Die Spurensicherung holte am großräumig abgesperrten Wohnhaus des neuen Verdächtigen als Erstes den Ford Mondeo ab. Möglicherweise gehörte er wie Stephens zu einer Gruppe von Männern, die nicht nur wiederholt Sex mit den Prostituierten hatten, sondern auch ihren sozialen Kreis bildeten. Von „emotionalen Bindungen“ ist die Rede, gegenüber denen Sex zweitrangig geworden sei.

Immer wieder hätten die Prostituierten bei diesen Männern auch mal um ein Nachtlager gebeten, damit sie wieder einmal ruhig ausschlafen konnten. Diese Freunde verspürten fast väterliche Gefühle. „Ich lebte mit ihr wie Vater und Tochter“, sagte einer von ihnen, der 51-jährige Ex-Soldat Brian, ein Freund von Paula Clennell. Stephens hatte dem „Sunday Mirror“ vielleicht ein bisschen zu viel von seinem engen Verhältnis mit den fünf Ermordeten erzählt. „Vor allem mit Tania (Nicol) und Gemma (Adams) war ich sehr eng. Aber ich stand auch den anderen nahe. Ich hätte über sie wachen müssen. Die Mädchen wären ihm „mit verbundenen Augen an den Rand eines Abgrunds“ gefolgt, sagte Stephens schluchzend. Der 37-jährige Supermarktmanager ist geschieden, ein Einzelgänger, der sich in seinem Profil in dem Internetportal Myspace „Der Bischoff“ nannte. Vielleicht ist er unschuldig. Gestern Nachmittag aber übertrugen die Nachrichtenkanäle mit starken Teleobjektiven live, wie kniende Polizisten in weißen Overalls seinen Garten Millimeter um Millimeter nach Spuren durchsuchten.

Matthias Thibaut

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