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Panorama: Die Insel der Reiferen

Ogimi - Ushi Okushima stürzt ein Glas dreißigprozentigen Schnaps herunter und stürmt auf die Tanzfläche – und das im Alter von 105. Die Töchter der alten Dame mit dem braunen Kimono und dem dicken weißen Haarschopf klatschen begeistert in die Hände.

Ogimi - Ushi Okushima stürzt ein Glas dreißigprozentigen Schnaps herunter und stürmt auf die Tanzfläche – und das im Alter von 105. Die Töchter der alten Dame mit dem braunen Kimono und dem dicken weißen Haarschopf klatschen begeistert in die Hände. Ushi ist Besuch von Bewunderern gewohnt, ist sie doch die gesündeste Über-Hundertjährige von ganz Ogimi, das von den UN zum „ältesten Dorf der Welt“ erklärt wurde. Ogimi liegt auf der Pazifikinsel Okinawa, zwischen azurblauem Meer und dunkelgrünen Wäldern, ein Dorf voller fröhlicher alter Menschen.

Doch die Idylle ist bedroht: Immer mehr Junge gehen fort und entfernen sich so von den gesunden Lebensgewohnheiten der Einwohner. Ushi lacht und winkt beim Tanzen mit den Armen. „Sie liebt es, ihre Energie weiterzugeben“, sagt Tochter Kikue, selbst 79 Lenze jung. Ihr Heimatdorf Ogimi ist selbst innerhalb Japans, das eine der ältesten Bevölkerungen der Welt hat, eine Ausnahme.

Ein Drittel der 3500 Bewohner Ogimis sind über 65 Jahre alt, elf sind über 100. Im Krankenhaus ist davon keiner – und gerade mal 50 der älteren Menschen leben in Altersheimen. Bei einem Spaziergang durchs Dorf kann der Besucher frühmorgens Neunzig- und Hundertjährige stramm durch die Straßen marschieren sehen, und zum Tee bellen sich schwerhörige, aber ansonsten topfit aussehende, ältere Damen den neuesten Klatsch in die Ohren. Ushi ist mit ihren 105 Jahren das unumstrittene Oberhaupt der Familie. Die Witwe hat 13 Enkel, 23 Urenkel und drei Ur-Urenkel – und sie wacht aufmerksam über alle. „Ich sage ihnen, wann ihre Haare zu lang oder ihre Röcke zu kurz sind“, meint die alte Dame, die sich immer noch das Gesicht pudert, die Haare ölt und Parfüm benutzt.

Forscher haben eine Erklärung für das Geheimnis der gesunden Alten von Okinawa. „Es ist ein Gleichgewicht, wie die vier Beine eines Stuhls“, sagt Craig Willcox, Professor für medizinische Anthropologie in Okinawa. „Ernä hrung, Bewegung, psycho-spirituelle und soziale Faktoren“ spielten eine Rolle. Aber das Gleichgewicht ist in Gefahr. „Ich mache mir große Sorgen, dass diese Kultur verschwindet“, sagt Ogimis Bürgermeister Yoshikazu Shimabukuro. Die jungen Menschen verlassen die Dörfer und gewöhnen sich in den Großstädten auch an moderne Ernährung – Fast food. Forscher Willcox ist pessimistisch: Wenn die Entwicklung sich fortsetze, dann werde die große Zahl der Hundertjährigen auf Okinawa „in den nächsten 20 bis 30 Jahren verschwinden“.

Kimiko de Freytas-Tamura (AFP)

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