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Panorama: Die Zarin ist tot - sie war die einzige wirkliche First Lady der Sowjetunion

Berge von Blumen, jeden Tag. Seit Juli sammelte die Universitätsklinik in Münster die Sträuße für Raissa Gorbatschowa, doch die Patientin durfte sie nur von weitem durch eine Glasscheibe betrachten.

Berge von Blumen, jeden Tag. Seit Juli sammelte die Universitätsklinik in Münster die Sträuße für Raissa Gorbatschowa, doch die Patientin durfte sie nur von weitem durch eine Glasscheibe betrachten. Ihre letzten Lebenswochen musste sie in einer absolut sterilen Umgebung verbringen. "Wie Schnee im Juli" sei der Krebs über seine Frau gekommen, er könne sich ein Leben ohne Raissa nicht vorstellen, sagte der sonst mit Emotionen so zurückhaltende Michail Gorbatschow in die Fernsehkameras hinein. Doch die Krankheit ließ seiner Frau keine Chance. Die Chemotherapie schlug nicht an, und für eine Rückenmarks-Transplantation, für die Raissas Schwester Ljudmila Titorenko als Spenderin nach Münster gereist war, war es schließlich zu spät. Gestern vormittag dann verkündete die Klinikleitung: Raissa war um 2 Uhr 55 morgens gestorben, ihr Kreislauf und ihre inneren Organe hatten versagt. Michail Gorbatschow und seine Tochter hatten zusammen mit den Ärzten am Totenbett gewacht.

In Moskau verdrängte die Nachricht über den Tod Raissa Gorbatschowas - der letzten First Lady der Sowjetunion und der ersten, die diesen Namen verdiente - die Meldungen über die Ermittlungen zu den jüngsten Terrorakten. Zum ersten Mal schwang in den Berichten über sie ein warmer Unterton mit, sogar ein bisschen Reue über all die Gemeinheiten, die Volk und Medien der "Zarin" angetan haben. Auf eben diesen Terminus hatte sich die Öffentlichkeit stillschweigend in seltener Geschlossenheit verständigt, kaum dass Gorbatschow 1984 in Moskau das Zepter in die Hand nahm.

"Wer ist eigentlich der Mann da neben Raissa Maximowna?", lautete die rein rhetorische Standardfrage im Macho-Land UdSSR, wenn die Gorbatschows im Kreml ausländische Staatsgäste empfingen. Frau Gorbatschowa konnte es nicht nur in Sachen Eleganz mit Nancy Reagan und Danielle Mitterrand aufnehmen. Sie stand ihnen auch an Selbstbewusstsein nicht nach. Raissa Gorbatschowa war die erste, die es wagte, dem allmächtigen "Gensek" - dem Generalsekretär der KPdSU - hier und da ins Wort zu fallen und sogar zu lachen. Für einheimische Medien und Politiker ein unfassbares Vergehen - der Aufbau des real existierenden Sozialismus, an dessen Reformierbarkeit die Gorbatschows bis zum bitteren Ende glaubten, galt als ernste Angelegenheit.

Doch nicht nur Nomenklatura und Establishment fielen über Raissa her. Viel stärker noch feindeten die Frauen sie an. Arbeiterinnen wie Intellektuelle verurteilten einmütig die neumodischen Bräuche der Ära Gorbatschow. Sie waren nicht unbedingt neidisch auf die Haute-Couture-Kostüme des sowjetischen Modezaren Slawa Saizew, die Raissa nicht ohne Koketterie im Fließbandtakt vorführte, aber sie empfanden doch ein dumpfes Unbehagen wegen der Kluft zwischen "denen da oben und uns da unten". Raissa betonte diese Kluft, wenn auch eher unbewusst, vor allem dadurch, dass sie die auf dem Papier existierende Gleichberechtigung der Geschlechter zwar eindrucksvoll vorlebte, für einen Lastenausgleich und die reale Emanzipation der Sowjetfrau jedoch keinen Finger rührte.

Große, kluge Augen

Nicht besser kam sie bei den Bauern weg, den braven Muschiks. Die erregten sich immer wieder, wenn Frau Gorbatschowa bei Staatsbesuchen im Ausland die Gangway betrat. An der Seite ihres Mannes und nicht etwa einen halben Schritt zurück, wie das Publikum es von den Frauen ihrer bisherigen kommunistischen Halbgötter gewohnt war. Sofern deren Damen überhaupt in der Öffentlichkeit erschienen. Ninel Chruschtschowa sorgte nicht nur wegen ihres Leibesumfangs und wegen des geblümten Dirndls außerhalb der Landesgrenzen für Gruseln, weshalb Nachfolger Leonid Breschnew seine unscheinbare Viktoria nur einziges Mal mit an Bord gehen ließ - zum Staatsbesuch in die Modehauptstadt Paris. Und bis Juri Andropows Frau am Grab ihres Mannes zu sehen war, hatte man sich gefragt, ob sie überhaupt existierte.

Die meisten Sowjetbürger und Russen fanden das in Ordnung. Für sie sind Frauen für Schwerstarbeit und zum Kinderkriegen da und gehören, wenn das Schicksal den Gatten zu höchsten Weihen auserkoren hat, in den goldenen Käfig. Michail Gorbatschow dagegen, der nie ohne seine Raissa verreiste, bescheinigte dem Volk "absolute Abhängigkeit", und manchmal setzte er davor das damals noch als Unwort verpönte Attribut "sexuell".

Gorbatschow selbst macht in seinen Memoiren keinen Hehl daraus, dass er vor allem der Mann seiner Frau ist. Verbürgt ist, dass Raissas große, kluge Augen, die noch das von der Krankheit gezeichnete Gesicht beherrschten, es dem Jurastudenten Michail angetan hatten. Die beiden hatten sich Anfang der Fünfziger bei einer Feier in einem Moskauer Studentenwohnheim kennengelernt. Erklärtermaßen verzieh er seiner Angebeteten auch, dass sie nicht einmal Bratkartoffeln mit Zwiebeln zustande brachte, als die Jungverheirateten gleich nach dem Studium in eine Klitsche bei Stawropol im nördlichen Kaukasusvorland versetzt wurden.

Vor allem die Treue, mit der der frühere Weltpolitiker nach 46 Ehejahren zu Raissa stand, bewirkte in deren letzten Lebenswochen den Stimmungsumschwung. Tausende von Briefen und Telegrammen gingen bei der Gorbatschow-Stiftung in Moskau ein. Gorbatschows Intim-Feind Boris Jelzin schickte ein Telegramm nach Münster, wo der frühere Präsident bis in die späte Nacht am Krankenbett saß. So, wie Raissa nicht von seiner Seite gewichen war, als das Notstandskomitee ihn nach dem Augustputsch vor acht Jahren auf der Krim festgehalten hatte.

Doch bei weitem nicht alles hat die große russische Seele der einstigen ersten Frau im Staat vergeben. Dass sich die Professorin für marxistisch-lenistische Philosophie beim Großbritannien-Besuch weniger für das Karl-Marx-Grab interessierte als für die Kronjuwelen im Tower, hält man inzwischen für eine lässliche Sünde. Weniger nachsichtig ist man gegenüber ihrer Schwäche für Kreditkarten, mit denen sie gern ihre teuren Einkäufe bezahlte. Ohne sich darum zu scheren, dass zu jener Zeit landesweit Mangel an den elementarsten Gütern herrschte. Sogar die verwöhnten Moskowiterinnen schrieben sich mit Kopierstift Nummern auf den Handrücken, um sich ihren Platz in der Schlange um ein halbes Kilo Butter zu sichern. Frau Gorbatschowa, in deren Mann die Masse den Hauptschuldigen für das Elend sah, führte unterdessen ungeniert ihre neuen Cartier-Ohrringe vor. Gorbatschow, daraufhin angesprochen, hob hilflos die Hände: "Sie ist eine sehr unabhängige Frau." Auch, was Meinungsbildung anbelangt.

Gorbatschow konnte mit Fug und Recht behaupten, er sei über alles im Bilde. Nicht zuletzt dank Raissas, die sich Abend für Abend bei ihm einhängte, wenn er vor der Staatsdatsche bei Moskau vorfuhr und erst mal ein paar Runden mit ihm spazieren ging. Für ihren Mann war Raissa eine wichtige Ratgeberin, die, so heißt es, ihn zu seinen politischen Reformen inspirierte. Vor allem aber konnte Raissa eines: zuhören. Auch dann, wenn es nur der Kummer ihrer persönlichen Dolmetscherin war, die sie beim Besuch zum 40. und letzten Jahrestag der DDR begleitete. Menschen haben sie immer interessiert. Egal, welchen Stellenwert das Protokoll ihnen beimaß.

Selbst ihre einstigen Feinde heben nun Raissas menschliche Qualitäten hervor. Boris Jelzin schrieb seinem früheren Rivalen Gorbatschow: "Ein wunderbarer Mensch, eine schöne Frau und eine liebende Ehefrau und Mutter ist von uns gegangen." Der russische Präsident hat eine Tupolew-134 chartern lassen, um die tote Raissa nach Moskau zu fliegen. Ihre letzte Ruhestätte soll sie im Zentrum der Hauptstadt finden: auf dem Prominenten-Friedhof Nowodewitschi.

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