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Panorama: Ein Bild von einem Mann

Identität hat nichts mit Genen oder Hormonen zu tun. Ein Paradebeispiel sind Albaniens „Schwurjungfrauen“. Sie leben wie Kerle

Von Caroline Fetscher

Sie sind Frauen und leben in den albanischen Bergen, in ländlichen Regionen. Ihr Haar ist kurz geschnitten, sie tragen Männerkleidung, Waffen und männliche Vornamen. Albaniens „geschworene Jungfrauen“ ackern mit den Männern auf dem Feld, stützen sich wie ein Mann auf die Hacke, hüten das Vieh, lenken Traktoren und Lastwagen. Sie rauchen, hocken mit in der Männerrunde, trinken Raki und nehmen oft ruppige Umgangsformen an. Ihnen gehört Haus und Hof, sie sprechen in der Familie Recht. Auf ihr Wort hört der Clan wie auf das Wort eines Mannes. Nichts von alledem stand Frauen traditionell zu. Im archaischen Gesetz der Albaner, dem „Kanun“, galt der Satz: „Eine Frau gleicht einem Sack, der einstecken muss.“ Dennoch wurden in der durch und durch patriarchal geprägten Gesellschaft diese Frauen, „Burrnesha“ genannt, von allen akzeptiert. Einige von ihnen, etwa einhundert, schätzen Ethnologen, gibt es heute noch. Die alte, albanische Praxis des institutionalisierten Rollenwechsels der Geschlechter ist in Europa einzigartig. Mit Transsexualität oder Homosexualität hat diese kulturelle Praxis nichts zu tun.

Für ihre Portraitserie „Sworn Virgins“ reiste die Fotografin Pepa Hristova in den vergangenen Jahren mehrmals nach Albanien, wo sie heute lebende Schwurjungfrauen suchte und fand. Eindrucksvolle, herbe Gesichter sind auf Hristovas Bildern zu sehen, deren Züge von Entschlossenheit sprechen, aber auch von Härte und Entbehrung. So überzeugend geschieht ihre Verwandlung zum Mann, dass sich auch ihre Physiognomie mit der Zeit verändert. Außerhalb der Familie hält sie jeder für einen Mann. Die in Hamburg lebende gebürtige Bulgarin Hristova erhielt für ihren Foto-Essay den zuletzt vergebenen Otto-Steinert-Preis der Deutschen Gesellschaft für Photographie. Einige der Frauen, die Hristova zeigt, hatten sich nicht nur wegen Männermangels in der Familie für die neue Rolle entschieden, sondern schlicht um mehr Freiheit zu genießen oder legal einer Zwangsheirat zu entkommen. Die Arbeit an diesen Portraits, erklärt die Künstlerin, bedeutet für sie „die Beschäftigung mit den Wertvorstellungen und dem Identitätsbegriff in mir fremden, unbekannten Kulturen“. Auch eine Filmemacherin und Autorin, die aus Albanien stammende Elvira Dones, war auf den Spuren der Burrnesha unterwegs. Tief beeindruckt war Dones von Ernst und Würde dieser Frauen. In ihrem Dokumentarfilm kommt unter anderem Lule Ivanaj zu Wort, die sich in einer Ehe „zerquetscht“ fühlen würde. „Sogar wenn Liebe dabei ist, immer haben ja nur Männer das Recht zu entscheiden. Ich will komplette Gleichberechtigung oder gar nichts.“

In der Regel ist das nirgends möglich, wo das Patriarchat herrscht. Auch die albanische Möglichkeit entstand nur aus Not. Wie die Sozialanthropologin Antonia Young in ihrem Buch „Frauen, die zu Männern werden“ schildert, verdanken die Burrnesha oder auch „Virgjinesha“ ihre Existenz ursprünglich der Blutrache, einer weiteren patriarchalen Tradition. Fehden zwischen Clans werden dabei über Generationen mit „Sühnemorden“ an männlichen Clanmitgliedern ausgetragen. Sind aber irgendwann keine männlichen Nachkommen mehr da, was dann? Dann kann oder muss sich, bei albanischen Muslimen wie Christen, eines der Mädchen opfern, die vakante Rolle auszufüllen. Hatte sie den Schwur abgelegt, auf ewig Jungfrau und unverheiratet zu bleiben, erhielt sie eine neue Identität, aus einer Shpresa wird etwa ein Rexhep. So selbstverständlich war den Frauen ihre Rolle, dass Young auf der Feldforschung nur karge Antworten erhielt: „Ich bin ein Mann, und damit hat sich's. Ich besitze dieses Land und arbeite hart“, beschied ihr die 66-jährige Haki. „Warum stellen Sie mir solche Fragen?“ Es sei beleidigend für Schwurjungfrauen, über ihre Emotionen zu sprechen, begriff die Forscherin, denn „es greift ihren Ruf als ehrbare Männer an“.

Mindestens seit dem 15. Jahrhundert, als der Kanun kodifiziert wurde, besteht die Tradition, das vermuten Historiker und Ethnologen. Unter Diktator Enver Hoxha war der „Kanun“ verboten, doch teils gingen Blutfehden heimlich weiter. Nur die „Mannweiber“ vom Land interessierten das Regime nicht, einige dienten sogar in der Armee. Im Chaos ab 1985, nach dem Ende des Kommunismus, lebte die Blutrache, „Gjakmarrje“, wieder auf. Inzwischen jedoch werden die Burrnesha weniger; auch in Albanien bahnt sich die Demokratie allmählich ihren Weg bis zu den Dörfern in entlegenen Bergfalten.

Die „albanischen Jungfrauen“ aber illustrieren die Vorstellungswelt von Gesellschaften, in denen eine Frau als Autorität so undenkbar ist, dass sie zum Mann mutieren muss, um Recht, Status und Würde zu erhalten. Eins ist eisern befestigt im traditionellen Patriarchat: Frauen können und dürfen Männern nicht gleichrangig sein. Sonst stimmt die Welt nicht mehr. Eindringlich belegen Albaniens Schwurjungfrauen, in welchem Ausmaß „kulturelle Identität“ eine Konstruktion ist. Nicht Gene oder Hormone, wie bei Tieren, sondern die Gesellschaft, die Gruppe, das soziale System, das wir uns ausdenken, entscheiden darüber, wer etwas in welcher Rolle oder Hierarchie darf und darstellt. Das lehrt auch dieses Kuriosum.

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