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Panorama: Ein Brustkorb im Rampenlicht

Schicht für Schicht zeigt Gunther von Hagens das menschliche Innenleben. Die Zuschauer kommen auf ihre Kosten

Die in Plastik verpackte Leiche wird auf den Cromargan-Tisch gewuchtet und der Mann in der ersten Reihe faltet die Abendzeitung zusammen. Isabelle, Medienstudentin der Londoner City Universität, flüstert ihrer Freundin ins Ohr: „Ich habe noch nie einen Toten live gesehen". Auch Steffen Borchmann aus Gunther von Hagens technischem Team reckt den Kopf. „Ich bin seit drei Jahren beim Institut für Plastination", sagt der junge Deutsche. „Aber dies ist jetzt der Höhepunkt". Wir sind alle neugierig, ein bisschen bänglich, weil wir, wie Voyeure, Verbotenes betrachten wollen. Die Akteure bei der ersten öffentlichen Autopsie seit mindestens 170 Jahren sind Deutsche.

Von Hagens hatte Heidelberger Kollegen mitgebracht, die das Geschehen mit philosophischen Betrachtungen über die „menschliche Erbärmlichkeit" garnierten. Auch der 72-jährige Tote kam aus den offenbar beträchtlichen Leichenvorräten des Heidelberger Anatomie-Entertainers. Der Medienrummel war britisch. Der Moderator des TV-Senders „Channel 4“ stellte sich hinter der verdeckten Leiche auf, die Scheinwerfer gingen an und die Anmoderation für die spätere Übertragung wurde aufgezeichnet. „Der Mann hatte ein ganz normales Leben", erläuterte Professor Klaus Kayser, der im weißen Kittel assistierte. „Mit 50 verlor er seinen Job und begann zu trinken. Er trank zwei Flaschen Whiskey am Tag und rauchte 60 Zigaretten und lebte allein."

Dann zog Professor Gunther von Hagens, in Birkenstocksandalen, blauem Kittel und Hut, das Leichentuch weg. Ein Ruck ging durch die Menge. Auf dem Seziertisch lag der milchig-gelbliche Körper, der ein halbes Jahr in Formaldehyd gelegen hatte.

Scotland-Yard-Beamte waren im Saal. Sie arbeiten nun an ihrem Bericht für den Kronankläger. Aber, als der Professor das Skalpell zum Y-Schnitt ansetzte, griff niemand ein. „Der Schnitt geht durch die Haut, durch den Thorax und hinunter bis zur Pelvis". In dem Moment, als er das Messer in die Brust des Toten senkte, wussten wir, dass eine Grenze überschritten war und es nun kein Zurück mehr gab. Von Hagens legte sein ganzes Gewicht aufs Skalpell. „Ich stehe voll auf dem Boden des Rechts", hatte er bei der chaotischen Pressekonferenz vor dem Gebäude im Regen verkündet. „Es geht hier um die Demokratisierung der Anatomie. Es gab ja auch einmal eine Zeit, da durften nur Pfarrer in der Bibel lesen".

Bald war der Brustkorb hochgeklappt wie die Deckel eines Pappkartons. Brenzlig wurde es noch einmal, als von Hagens die Säge am Kopf ansetzte. „Ich höre auf den Ton, damit ich nicht zu weit säge und das Gehirn beschädige", sagte er und brachte das Ohr näher an den Toten. Einige verließen den Saal. Je mehr Organe auf dem Seziertisch ausgelegt wurden, desto bizarrer schien die Mischung von medizinischer Sachlichkeit und Entertainment. Geschickt führte von Hagens Regie, dirigierte die Assistenten an den richtigen Platz und winkte die Kamera näher. Dann löffelten Marius und Edward, die Gehilfen, mit der Kelle Flüssigkeit aus der leeren Körperöffnung und der Professor rief die Pause aus. Die Leiche wurde an die Wand geschoben und ein Schildchen aufgestellt: „Nicht berühren".

„Hier wird eine Leiche als Objekt für Unterhaltung benutzt. Mit Wissenserweiterung hat das nichts zu tun", sagte Dr. Michael Wilkes, Ethikfachmann des britischen Ärzteverbandes. „Ich behalte mir ein Urteil vor", meint der Heidelberger Professor Wilhelm Kriz, der zu der akademischen Minderheit gehört, die von Hagens „Körperwelten"-Ausstellung gutheißt. „Die entscheidende Frage ist, ob das nötig ist". Niemand aus der Öffentlichkeit würde daran gehindert, in eine Anatomievorlesung zu kommen, sagt Professor Kriz. „Aber es kommt nie jemand". Dr. John Lee, der einzige englische Teilnehmer an der Präsentation, der dem Ganzen noch am ehesten den Anstrich von Seriosität gibt, betont es immer wieder: „Die Anatomie ist für das Leben. Wir nehmen Informationen von den Toten und geben sie an die Lebenden weiter." Könnte er sich eine Wiederholung dieser Vorführung vorstellen? „Vielleicht müsste man das besser regeln und den Rahmen anders gestalten", sagt er zögernd.

Die Zuschauer scheinen auf ihre Kosten gekommen zu sein. „Es ist einfach wunderschön", sagte die 77-jährige Juanita Carberry. Sie verfolgte die Vorführung mit dem Opernglas und gehört zu den 20 Briten, die dem Institut für Plastination mittlerweile ihren Körper vermacht haben. „So was habe ich noch nie gesehen. Faszinierend", meinte eine 40-jährige Buchhalterin. Doch zwei junge Frauen, eine Krankenschwester und ihre Freundin, die ganz vorne am Geländer der Pressetribüne standen und keinen Blick abwandten, hatten es sich anders vorgestellt. „Irgendwie ist es unwirklich. Dieses Stück Brustkorb, das war wie aus dem Film „Terminator".

Nach der Pause wurden Organe zerschnitten und auf dem Seziertisch verteilt. Das Publikum stellte Fragen. „Ich fühle da Steine", kündigte von Hagens an und öffnete mit einer kleinen Schere die Gallenblase. Gehilfe Marius trug später die Leber auf dem Tablett zu den ersten Reihen und hielt das Steinchen mit der Pinzette hoch. Wie artige Studenten beugten wir Zuschauer uns darüber. Professor Kayser verkündete den Befund. Chronische Lungenentzündung, erweitertes Herz, Herz-Lungen-Schwäche ist die vermutete Todesursache. Einige fingen an zu gähnen. Dr. Lee musste die Zuschauer bitten, sitzen zu bleiben. „Am Ende zollen wir dem Toten und seiner Familie Tribut, legen alle Organe wieder an ihren Platz zurück und stellen den Körper wieder her. Dies ist ein wichtiger Bestandteil der Prozedur", erklärte er. Professor von Hagens war zufrieden. „Dies ist nun eine historische Leiche. Wir werden den Mann nun in unserem Institut plastinieren und in „Körperwelten" zeigen. Doch während die Gehilfen den Toten geduldig zunähten, war von Hagens schon beim nächsten TV-Interview. Noch in der Nacht wurde der Zusammenschnitt von „Channel 4“ ausgestrahlt. Trotz der Nachtstunde saßen 1,2 Millionen vor dem Fernseher. Kaum ist ein Tabu gebrochen, gehen die Bilder um die Welt.

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