zum Hauptinhalt
319235_0_939533c2.jpg

© X80003

Erdbeben-Katastrophe: USA - Haiti: Freundliche Übernahme

Versöhnlerisch, schwach, wankelmütig: Haitis Präsident René Préval zeigt sich ohnmächtig angesichts der Katastrophe. Deshalb springen nun andere in die Bresche und organisieren die Hilfe – allen voran die USA. Manche sprechen schon von Neokolonialismus. Doch in diesen Tagen hat das Wort keinen negativen Klang.

Als der Boden unter dem Land, dessen Präsident er ist, am Dienstagnachmittag vor einer Woche zu beben anfing, saß René Préval in einem Dienstwagen, neben ihm seine Frau, die First Lady Elizabeth Débrosse Delatour, unterwegs zu einem Termin, was ihm möglicherweise das Leben gerettet hat.

Denn während Preval unversehrt blieb von dem Erdbeben der Stärke 7, stürzte sein Amtssitz in sich zusammen, der Präsidentenpalast Haitis am Champ de Mars im Herzen von Port-au-Prince. Ein weißer Prachtbau, errichtet 1918, also zu einer Zeit, da die USA auf Geheiß des damaligen Präsidenten Woodrow Wilson Haiti besetzt hatten, um Chaos zu unterbinden. Es waren nicht die schlechtesten Jahre der Insel.

Der Präsident, ein freundlicher Herr mit weißem Bart, der es mit dem Export von Bambusmöbeln zu Wohlstand gebracht hat, ließ sich in seine Hauptstadt bringen, wo er zunächst so fassungslos durch die Trümmer irrte wie Hunderttausende seiner Landleute auch. Der Palast – in Trümmern, sein Wohnhaus – eingestürzt, die Verwaltung – außer Betrieb, damit auch die gesamte Fassade dessen, was im Westen der „Staat“ heißt, in Haiti aber nie mehr war als ein aufgeblasener, korrupter und ineffizienter, bürokratischer Wasserkopf. Und auch die UN-Stabilisierungstruppe Minustah, die in den vergangenen Jahren die Sicherheit in Haiti regelte und sich um den Aufbau einer Verwaltung und funktionierender Institutionen bemühte, war kollabiert.

„Es ist eine unermessliche Katastrophe“, stammelte der 67-jährige Präsident, der seit dem Beben bei Freunden übernachtet, in die Mikrofone der US-Sender, die die ersten vor Ort waren. „Wie viele Tote? 50 000 habt ihr doch gerade im Fernsehen gesagt“, fügte er hilflos hinzu.

Er ließ ein provisorisches Quartier in einer Polizeikaserne in der Nähe des Flughafens errichten, hier erreichte ihn vergangenen Freitag US-Präsident Barack Obama, der drei Tage lang keine Telefonverbindung nach Haiti bekommen hatte, hier empfing er am Samstag die US-Außenministerin Hillary Clinton, am Sonntag UN-Generalsekretär Ban Ki Moon, am Montag dann Bill Clinton, den US-Sondergesandten für Haiti.

Hillary Clinton hatte nach dem Gespräch mit Préval an die Haitianer gerichtet gesagt: „Wir sind hier, um euch zu helfen“, und: „Wir sind heute hier, wir werden morgen hier sein und in der Zeit, die vor uns liegt.“

Mutmachende Worte, wie sie die Haitianer auch gerne von ihrem Präsidenten gehört hätten. Er ist ihnen in diesen Tagen keine Hilfe. Ti-René, Klein-René, wie sie ihn wegen seiner geringen Körpergröße nennen, ist einer, der lieber im Hintergrund agiert statt auf der Bühne. Das unterschied ihn stets von seinem politischen Ziehvater, dem Armenprediger Jean-Bertrand Aristide. Préval gilt als versöhnlich, als anpassungsfähig und jemand, der zwischen den Fronten lavieren kann. Aber auch als zögerlich und wankelmütig, als jemand, der es allen recht machen will.

Nun werfen ihm seine Haitianer vor, er beschäftige sich mehr damit, ausländische Gäste am Flughafen zu empfangen und seine verbliebenen Minister zu Sitzungen einzuberufen, als die Verteilung der Hilfsgüter in die Hand zu nehmen oder mindestens Opfern und Helfern Mut zu machen.

Hilfs- und Ärzteteams arbeiten bis zur völligen Erschöpfung rund um die Uhr, bei Dunkelheit im Kerzenschein, statt Verbandsmaterial nehmen sie Fetzen von T-Shirts. Manche Patienten werden auf offener Straße behandelt, einmal diente ein umgestürzter Baum als Operationstisch. Viele der Verletzten haben bereits lebensbedrohliche Wundinfektionen. Die Zahl der Todesopfer wird auf bis zu 200 000 geschätzt, Leichen werden in Massengräbern verscharrt, die Gefahr von Seuchen wächst stündlich.

„Unsere Regierung tut gar nichts. Wir sind auf Hilfe aus dem Ausland angewiesen“, klagt auf dem Gang des Krankenhauses von Port-au-Prince ein Patient. Die Stimmung in Haiti sinkt mit jeder Stunde, die die Menschen auf Hilfe warten müssen. Die zu organisieren, hat Préval den USA überlassen, die damit eine Rolle aufnehmen, die sie in Haiti – und auch im Leben Prévals – bereits mehrfach gespielt haben.

Manche beschreiben diese Entwicklung als Neokolonialismus, in Haiti, in den USA und in Europa. Sie meinen es nicht als Beschwerde. Aus eigener Kraft, so die einhellige Meinung, könne sich das Land nicht aus den Fängen seiner blutigen Geschichte befreien. Die ordnende Hand müsse von außen kommen.

Diese Geschichte ist eine Abfolge von Unterdrückung und Rebellion, Intervention und Vertreibung fremder Eliten. Hier hatte die Entdeckung Amerikas begonnen. Columbus landete 1492 auf der Insel, deren Westen heute der Staat Haiti und deren Osten die spanischsprachige Dominikanische Republik einnimmt. Bald waren Franzosen Herren der Zucker- und Kaffeeplantagen. Doch mit der Französischen Revolution 1789 kam die Sklavenbefreiung und nach blutigen Kämpfen 1804 das Ende der Kolonialherrschaft. Formal war Haiti nun die zweitälteste Republik auf dem amerikanischen Kontinent, nach den USA – und die älteste Demokratie unter schwarzer Herrschaft weltweit. In der Realität setzte sich die Abfolge von Umstürzen, Militärcoups, Diktaturen und kurzen Phasen republikanischer Prosperität fort.

Anfang des 20. Jahrhunderts hatten Deutsche großen Einfluss, besaßen einen Großteil der Ländereien und kontrollierten den Außenhandel. 1915 intervenierten die USA. Als Anlass dienten Präsident Wilson hohe Schulden, die Haiti bei amerikanischen Banken hatte, sowie erneute Unruhen. Seither sind die USA die Ordnungsmacht auf Haiti, auch wenn sie ihre Truppen in den 1930er Jahren unter Präsident Roosevelt wieder abzogen.

Von 1957 an kontrollierte die Familie Duvalier Haiti, erst unter „Papa Doc“, dann unter seinem Sohn „Baby Doc“. Sie bedienten sich des Voodoo-Kults, ihr berüchtigter Sicherheitsdienst Tonton Macoute trug den Namen eines Voodoo-Geists. 1986 erklärte Papst Johannes Paul II. die blutige Herrschaft der Duvaliers nach einem Besuch Haitis für illegal. Eine Revolution brach aus, die Armee zwang Duvalier ins Exil, unterstützt von den USA. 1990 gewann der Armenpriester Aristide die Präsidentenwahl, wurde aber schon 1991 vom Militär gestürzt. In der Folgezeit versuchten immer mehr Haitianer nach Amerika zu fliehen. 1994 erzwangen die USA mit ihrer Interventionsdrohung die Rückkehr Aristides an die Macht. Nach Ende seiner Amtszeit 1996 wurde René Préval Präsident, damals ein enger Verbündeter Aristides. Doch sie zerstritten sich, Préval löste 1999 das Parlament auf. 2000 gewann Aristide erneut die Präsidentenwahl, seine Gegner hatten die Wahl boykottiert. Auch er unterdrückte zunehmend die Opposition. 2004 brachen Unruhen aus. Aristide floh ins Ausland, abermals unter Mithilfe der USA. Préval kam als möglicher „Versöhnungskandidat“ ins Gespräch. Der zweifache Vater, der zum dritten Mal verheiratet ist, musste 2006 nicht einmal richtig Wahlkampf machen und gewann trotzdem klar.

Doch seine zweite Präsidentschaft stand unter keinem guten Stern. Zwar gelang es ihm, mit Hilfe der Minustah die ausufernde Kriminalität in den Griff zu bekommen und das polarisierte Land einigermaßen zu befrieden, aber Hungerrevolten wegen der gestiegenen Nahrungsmittelpreise machten seiner Regierung das Leben ebenso schwer wie Hurrikane und Überschwemmungen, die tausende Menschenleben kosteten und alle Versuche zunichte machten, das Land wirtschaftlich auf die Beine zu bringen.

Deshalb auch hat das Wort von der Rückkehr der Kolonialherrschaft in Haiti keinen negativen Klang. Was in diesen Tagen zählt, sind Präsenz und Handlungsfähigkeit. Die USA beweisen beides. Sie haben den Flughafen wieder betriebsfähig gemacht, garantieren so weit es geht die Sicherheit mit ihren Soldaten, ihre Schiffe liegen vor den Häfen, ihre Politiker sind dauerpräsent.

Offiziell betonen Präsident Obama und andere US-Politiker, Haitis Regierung habe das Sagen. Sie verweisen auch auf die Führungsrolle der UN bei der internationalen Hilfe. Tatsächlich organisieren die USA den Haiti-Einsatz und sind auf allen Gebieten die dominierende Macht. Am Montagabend beriet der UN-Sicherheitsrat über die zunehmenden Gewalttaten und Plünderungen und beschloss, man wolle möglichst rasch 3500 UN-Blauhelme nach Haiti bringen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Woher sie kommen sollen und wann sie eintreffen können, ist unklar.

In denselben Stunden brachten die USA annähernd 2000 US-Marines auf die Insel. Am Mittwoch sollen es bereits 5000 sein. Die Herren der Lage sind die Amerikaner. Aber sie sind nicht mehr die Einzigen, die den Karibikstaat als Teil ihrer Einflusssphäre betrachten – auch in Lateinamerika rührt sich etwas.

Jahrelang haben die Menschen in Mexiko, Argentinien oder Brasilien sich wenig für die kleine Insel interessiert, kaum, dass sie von dem UN-Einsatz namens Minustah in Haiti wussten, den Brasilien verstärkt von Blauhelmen unter anderem aus Argentinien, Chile, Paraguay und Uruguay anführt. Doch an den derzeitigen Hilfsaktionen beteiligen sich fast alle Länder des Subkontinents. Auch diesmal tut sich besonders Brasilien hervor und hat mehr als 1200 eigene Soldaten in Haiti stationiert, die sich an Bergungsmaßnahmen beteiligen. US-Präsident Barack Obama schlug deshalb seinem brasilianischen Kollegen Luiz Inacio Lula da Silva bereits vor, gemeinsam mit den USA und Kanada die Führung beim Krisenmanagement der humanitären Hilfe für Haiti zu übernehmen.

„Die Regierung hat ihre Möglichkeit verloren, richtig zu funktionieren, aber sie ist nicht zusammengebrochen“, hatte Préval, die Augen von dunklen Ringen umrandet, am Wochenende in seinem provisorischen Büro gesagt. Préval, der Verwalter, der nichts mehr zu verwalten hat, während auf dem Gelände seines Regierungssitzes hunderte obdachlos gewordene Familien kampieren. Auch über diesen Zelten flogen am Dienstag die US-Hubschrauber, aus denen heraus Soldaten Hilfspakete warfen. Über 14 500 Lebensmittelpakete und 15 000 Liter Trinkwasser fielen herab auf Teile von Port-au-Prince, die zuvor abgesichert worden waren – um die Sicherheit der haitianischen Bevölkerung zu gewährleisten. Denn die Angst wächst, dass die Menschen, die seit dem Beben noch keine Hilfe erhielten, die Nerven verlieren werden, dass es Aufstände gibt. Aufstände derer, die kein Wasser haben, die verletzt sind und nicht behandelt werden, die hungern, sich ängstigen, die verzweifelt sind.

In einem Raum neben Prévals spartanischen Büro führt Ministerpräsident Jean-Max Bellerive in diesen Tagen die Amtsgeschäfte so weit es geht weiter, denn es gibt Teile der Insel, die funktionieren ja weiter. Ein Teil des Landes wird sogar in diesen Tagen angesteuert von Kreuzfahrtschiffen, die ihre Gäste an Land lassen, an abgezäunte Strände mit Palmen und weißem Sand. Haiti als Traum. So haben auch die Clintons die Insel kennengelernt, 1975, auf ihrer Hochzeitsreise. „Damals sind wir der Faszination Haitis erlegen“, sagte Bill Clinton jetzt. Die halte bis heute an.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false