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Gesellschaft: Was vom Müsli übrig blieb

Sie war das Kind strenger Öko-Eltern, Cola oder Fertigpizza gab es für sie nicht. In einem Buch rechnet Franziska Seyboldt ab.

Neulich auf dem Spielplatz. Zwei Kinder spielen, plötzlich wirft sich ein Elternteil dazwischen und reißt Kind 1 von Kind 2 weg. Was ist der Grund, eine ansteckende Krankheit, körperliche Gewalt, ein zerstörter Sandkuchen? Aber nein: die Cola, die Kind 2 Kind 1 entgegenhält. „Du weißt doch, dass Cola superungesund ist“, sagt der Elternteil zu Kind 1 und zieht es vom Spielplatz. Als handle es sich um ein Seuchengebiet.

Okay, Limonade ist voller Zucker oder Süßstoff und kein Getränk, das Kinder regelmäßig zu sich nehmen sollten. Geht es nach der Dokumentation „Unser täglich Gift“, die vor kurzem auf Arte lief, gehört der Süßstoff Aspartam sogar zu den Lebensmittelzusätzen, die für die Zunahme von Immunschwäche- und Krebserkrankungen verantwortlich sind. Haben wir als Kinder ja schon gereimt: „Die Wissenschaft hat festgestellt / dass Coca Cola Schnaps enthält. / Drum trinken wir auf jeder Reise / Coca Cola literweise.“ Aber müssen Eltern ihre Kinder wirklich von jedem Bissen fernhalten, der nicht den Maximalforderungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung entspricht?

Letztens auf einer Familienfeier. Alle bekommen ein Stück Torte. Bis auf das Mädchen mit der sich bewusst ernährenden Mutter. Die nimmt ihrer Tochter den Kuchen aus der Hand und tauscht ihn gegen eine Reiswaffel aus. Wegen des Zuckers und der Laktose, beides superungesund. Während alle Schokoladenkuchen mit ordentlich Schlagsahne in sich hineinschaufeln, hört man hin und wieder ein Knurpseln. Das Mädchen mit der Reiswaffel. Das sind die Dinger, die aussehen wie eine Mischung aus Hostie und Luftpolsterfolie. Und genauso schmecken. Einmal mehr fragt man sich: Was wird eigentlich aus Kindern, die sich im Alter von drei Jahren mehr mit Ernährung beschäftigen als mit Bob, dem Baumeister, oder der kleinen Raupe Nimmersatt?

So jemand wie Franziska Seyboldt. Seyboldt ist das Kind strenger Öko-Eltern. Sie ist 1983 geboren und in Ettlingen bei Karlsruhe aufgewachsen. Ihre Kindheit hatte alles, was zum Öko-Klischee der 80er-Jahre gehörte: Getreidemühle, Jutetaschen, Birkenstock-Sandalen, Homöopathie, schrumpeliges Obst, dazu jede Menge Belehrungen, was man essen darf (alles aus dem Bioladen) und was nicht (alles mit Konservierungsstoffen).

Mit ihrer Kindheit rechnet Seyboldt jetzt in einem Buch ab. „Müslimädchen“ heißt es, locker aufgeschriebene Kindheitserinnerungen, ein bisschen wie „Generation Golf“, nur eben ohne Golf. Dafür mit reichlich Müsli. Allerdings gab es bei Seyboldts kein leckeres Birchermüsli, mit frischen Früchten und Sahne. Sondern Köllnflocken, die feinen, die sofort aufgeweicht sind, mit Milch und Kaba. Während die anderen Kinder ihre Stullen in Tupperdosen oder Butterbrotpapier mitbrachten, waren Seyboldts Vollkornbrote mit Bio-Aufstrich in die viel zu großen Köllnflocken-Tüten gewickelt. Die musste sie wieder nach Hause bringen, irgendwann begannen sie zu schimmeln. „Mein Trauma vom gesunden Leben“, lautet der Untertitel des Buches.

Seyboldt sieht eigentlich ganz normal aus. Sie trägt T-Shirt und Hotpants, das blondgelockte Haar ist hochgesteckt. Sie arbeitet bei der „taz“, dem linksalternativen Leitmedium ihrer Elterngeneration, was wie ein Witz klingt. Oder eben nicht. Am Ende landen wir wohl alle dort, von wo wir aufgebrochen sind. Seyboldt kommt zum Interview in einen italienischen Feinkostladen in Charlottenburg. In den Regalen türmen sich ungesunde Cantuccini, der Ober bringt einen Vorspeisenteller und dann Pasta.

Die gab es nie bei Seyboldts, nur Vollkornnudeln. Vollkornnudeln, das sei das Schlimmste, was eine Öko-Kindheit mit sich bringen könne, sagt Seyboldt, während sie ihre Pasta aufrollt. „Körnig-pampig, wie eine schlechte Version von Pasta.“ Genau wie Grünkern, was es auch oft gab, als Bratlinge oder Reis-Ersatz. Die Vollkornnudeln kaufte die Mutter im Reformhaus, Aldi kannte Seyboldt nur aus Erzählungen.

Die Eltern, beide junge Musiker, lebten damals so, wie es heute überall propagiert wird. Sie kauften Lebensmittel nicht im Supermarkt, sondern aus lokaler Produktion, auf dem Markt oder Bauernhof um die Ecke. Fleisch gab es höchstens einmal die Woche, dafür ein richtig gutes Steak oder Rinderhack. Sie kochten frisch, süddeutsche Gerichte wie Arme Ritter, Ei mit Spinat oder Fleischküchle, dazwischen wurde in der kleinen Wohnung die rumpelnde Getreidemühle aus Plastik angeworfen. Sogar die Weihnachtsplätzchen waren aus Vollkorn.

Seyboldt erzählt von den Apfelwiesen ihrer Oma, auf denen sie herumlief, von Eltern, die musizierten, und von Campingurlauben in Südfrankreich. Von außen klingt das erst einmal nach einer netten Kindheit. Doch wie alle Kinder fand Seyboldt den Lebensstil der Eltern unmöglich. In der Schule fühlte sie sich als Außenseiterin, sie wollte wie alle anderen Cola, Bärchenwurst, Fertigpizza. Sie wollte zu McDonald’s, bei Krankheit Aspirin statt homöopathischer Zuckerkügelchen, und Jeans, die angesagt waren. Nicht die vom Öko-Hersteller Hessnatur, Seyboldt sagt nur „Hass Natur“. Bis heute habe sie diesen Reflex, sagt sie und kaut an ihrer Pasta. Sobald sie das Wort „öko“ höre, wolle sie sofort etwas Ungesundes essen.

Ihren Urlaub stellte sie sich auch anders vor. Was ihr lieber sei, einmal im Jahr All-inclusive oder drei Mal im Jahr campen, fragte die Mutter. Eine dieser typischen Mutterfragen, auf die es keine Antwort gibt. „Ich wollte natürlich das Hotel“, sagt Seyboldt. Es half nichts. Während die anderen Camper im Restaurant Pizza oder Crêpes aßen, kochten Seyboldts auf einem winzigen Gaskocher Ratatouille. Mit frisch geschnittenem Gemüse und Kräutern der Provence.

Als Seyboldt zum Studieren nach Berlin zog, machte sie erst einmal das genaue Gegenteil von dem, womit sie aufgewachsen war. Sie ernährte sich ausschließlich von Fast Food, kochte nie, außer Pasta mit Ketchup. Manchmal nahm sie am Tag auch nur eine Schachtel Zigaretten, einen Kaffee und ein Snickers zu sich. Die Care-Pakete aus Süddeutschland, mit Fruchtschnitten aus dem Bioladen, ließ sie verschimmeln. Irgendwann dachte sie, jetzt sei sie mit Öko durch, sowohl mit dem Phänomen als auch mit dem Hass darauf. Doch dann sind ihre Freunde plötzlich zu Hobbyköchen mutiert. Bestellten eine Biokiste aus Brandenburg, verkochten das Gemüse zu Ratatouille. Die Biowelle hatte das Land erreicht, ein riesiger Wachstumsmarkt. Allein 2011 wuchs der Umsatz der deutschen Biobranche um neun Prozent auf 6,6 Milliarden Euro.

Seyboldt war Mitte 20, doch sie war wieder in ihrer eigenen Kindheit. In Prenzlauer Berg, wo sie wohnt, eröffnete ein Bioladen nach dem anderen, die Leute um sie herum wirkten wie „junge Klone von meinen Eltern“. Nur dass die heute nicht „Müslis“ heißen, sondern „Lohas“, was von „Lifestyles of Health and Sustainability“ kommt, also dem gesunden und nachhaltigen Leben. Und dass nicht sie die Außenseiter sind, sondern die anderen. So lautete eine Frage, die im Forum der Zeitschrift „Brigitte“ mal gestellt wurde: „Muss man als Eltern heute bio, öko und alternativ sein?“

Seyboldt ist wohl selbst ein Loha. Sie fliegt wenig und hat kein Auto. Sie bezieht Öko-Strom, kauft ihre Kleider nicht bei Billig-Ketten und den Käsekuchen im Bioladen, weil der wegen des Bio-Sauerrahms besser schmecke. Trotzdem kann sie sich schnell in das rebellische Kind von damals verwandeln, das auf dem Heimweg von der Schule Gummibärchen in sich hineinstopfte. Wenn sie etwa von dem Café erzählt, das Kaffee „aus glücklichen Bohnen“ anpreist. „Alle müssen glücklich sein, und alles, was man isst, muss vorher glücklich gewesen sein.“ Sie findet das heuchlerisch, das Dogmatische, Ausschließliche daran. Zu glauben, man würde das richtige Leben führen, wenn man nur das Richtige isst.

Aber es gibt Hoffnung. Ihre Eltern seien lockerer geworden, sagt Seyboldt. Sie versteht sich gut mit ihnen und gibt sogar zu, dass sie ziemlich gut gekocht haben. Neulich habe ihre Mutter angerufen und erzählt, dass sie jetzt immer mal wieder zu Aldi gehe. Weil es günstiger sei – und nicht alles daran schlecht.

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