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Evolution: Die Rätsel der Neandertaler

Der Frühmensch zieht uns immer noch in seinen Bann. Lange Jahre hatte der Neandertaler als Urahn des modernen Menschen gegolten - bis Heike Krainitzki am 26. Juli 1996 die Säge ansetzte.

Düsseldorf - Das gerade mal dreieinhalb Gramm schwere Kochenscheibchen, das die Präparatorin Krainitzki im Rheinischen Landesmuseum Bonn aus dem rechten Oberarmknochen eines Neandertalers heraustrennte, barg eine Sensation: Die anschließenden Genuntersuchungen ergaben, dass die Neandertaler zwar unsere Verwandten, nicht aber unsere direkten Vorfahren waren. Doch so wegweisend diese Erkenntnis schien - auch 150 Jahre nach der Entdeckung des Homo neanderthalensis in einem Tal bei Düsseldorf rankt sich um den muskelbepackten Urmenschen noch manches Rätsel.

Die moderne Geschichte des Neandertalers begann in der ersten August-Woche 1856. Damals entdeckten italienische Steinbrucharbeiter im Lehm einer Grotte im Neandertal Knochenteile und eine Schädelkalotte - darunter auch jenen gut erhaltenen Oberarmknochen, den Heike Krainitzki fast 140 Jahre später ansägen sollte. Nach und nach setzte sich die Erkenntnis durch, dass die in der Nähe von Mettmann gefunden fossilen Überreste zu einem Urzeit-Menschen gehörten. Der Neandertaler war geboren - rund 30.000 Jahre nach seinem Aussterben, wie die Forscher heute wissen.

Bild des keulenschwingenden Eiszeit-Rambos ist längst passé

Seit der Entdeckung im Neandertal stießen die Experten auf hunderte weitere Skelett-Teile des Frühmenschen; die Fundstellen reichen von der Iberischen Halbinsel über Frankreich und den Balkan bis zum Vorderen Orient. Den maximal 130.000 Jahre alten Funden ist eines gemein: Die Knochen der flachschädeligen Neandertaler waren wesentlich robuster als unsere. So verbreitete sich schnell das Bild vom affenähnlichen Eiszeit-Muskelprotz, der gebückt und keulenschwingend durch Europas Vorzeit-Wälder stampfte - ein Irrtum, wie die Experten inzwischen herausfanden. Heute ist sicher, dass der Neandertaler dem modernen Menschen durchaus ähnlich sah. Auch kulturelle Errungenschaften widerlegen das Bild vom dumpfen Frühzeit-Rambo. So bestatteten die Neandertaler beispielsweise ihre Toten.

Zwar waren die Neandertaler mit einer Körpergröße von 1,60 bis 1,70 Metern etwas kleiner, dafür aber stämmiger und deutlich kräftiger als wir und damit auch von Natur aus besser auf ein Leben in der Kälte ausgerichtet. Nach heutigen Erkenntnissen war der Neandertaler durchaus gut gerüstet für sein hartes Leben im kalten Norden Europas - bis plötzlich aus dem tiefen Süden ein noch anpassungsfähigerer Konkurrent auftauchte: der moderne Mensch.

"Es gibt einen zeitlichen Zusammenhang zwischen den Wanderungen des modernen Menschen von Afrika nach Europa und dem Verschwinden der Neandertaler", sagt Bärbel Auffermann, stellvertretende Direktorin des Neanderthal-Museums in Mettmann und eine der führenden Expertinnen auf dem Gebiet der Neandertaler-Forschung. Auf welche Weise genau die Evolution die Neandertaler aussortierte, ist wissenschaftlich allerdings noch nicht geklärt und Gegenstand einer Fülle von Theorien.

Das Ende der Neandertaler bleibt rätselhaft

So halten es einige Forscher für möglich, dass ihre Sesshaftigkeit den Neandertalern zum Verhängnis wurde. Immerhin waren die modernen Menschen Nomaden und deshalb vielleicht besser in der Lage, in einer Zeit extremer Kälte und knapper Ressourcen den Beutetieren auf deren Wanderungen zu folgen. Andere Theorien gehen davon aus, dass unsere direkten Vorfahren länger lebten und mehr Kinder hatten. Wieder andere Wissenschaftler führen das Ende der Neandertaler auf Krankheiten zurück, die womöglich von den Neuankömmlingen aus Afrika eingeschleppt worden seien. Letztlich könne wohl nur ein "Erklärungsmosaik" das Rätsel lüften, glaubt Auffermann.

Kein Zweifel besteht jedenfalls daran, dass Neandertaler und moderner Mensch zumindest für kurze Zeit gemeinsam in Europa gelebt haben. Ob sie sich auf dem damals nahezu menschenleeren Kontinent begegnet sind oder sich sogar in Einzelfällen vermischt haben, ist dagegen umstritten. Weiteren Aufschluss darüber soll die Entschlüsselung des Neandertalergenoms liefern, an der das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und die US-Firma "454 Life Sciences Corporation" derzeit arbeiten. Erste Ergebnisse werden in den nächsten beiden Jahren erwartet. (Von Richard Heister, AFP)

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