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Panorama: Friedrich Schiller: Räuber und Gendarm

Langweilig?!

Langweilig?! Temperamentvoll ist er gewesen, der Dichter! Ein Mitschüler Friedrich Schillers erinnerte sich später einmal, mehrere seiner Freunde seien Augenzeugen gewesen, als Schiller "während eines Beyschlafs, wobei er brauste und stampfte, nicht weniger als 25 Prisen Tabak in die Nase nahm".

Vielleicht ist es kein Zufall, dass Schiller auf der Liste der an deutschen Bühnen meistgespielten Autoren auf einem überaus anständigen Platz 4 steht. Einem Platz also, der in der Bundesliga immerhin die Teilnahme an der Champions-League ermöglichen würde. Vor sich hat er lediglich die üblichen Verdächtigen: Shakespeare, Brecht und Goethe.

Etwas unbehaglich ist mir indessen, wenn ich mir vorzustellen versuche, wie Schiller wohl reagieren würde, wenn er einige dieser Aufführungen hätte sehen können. Ich befürchte, dass er sich mit einer Umdrehung im Grabe nicht begnügen, sondern rotieren würde wie eine Turbine.

Theatertrümmer

Das soll nicht heißen, dass "Die Räuber" etwa so gespielt werden müssen, wie bei der Uraufführung in Mannheim. Das wäre schon deshalb Unfug, weil bereits damals der Theaterdirektor das Stück in das ausgehende Mittelalter verlegte und vom Autoren Kürzungen und Milderungen verlangte. Im selben Jahr, an dem "Die Räuber" uraufgeführt wurden, hatte James Watt die doppelt wirksame Dampfmaschine entwickelt, ein Jahr später ließen die Gebrüder Mongolfier die ersten Heißluftballons in den Himmel steigen. Maschine und Ballons mussten im Laufe der Jahre ständig und erheblich verbessert werden. Damit verglichen sind die Räuber äußerst glimpflich davongekommen, zumindest bis unsere modernen Regisseure antraten. Ihnen scheint es nicht mehr darum zu gehen, Stücke dem Geist der jeweiligen Zeit anzupassen. Sie zertrümmern die Stücke, bis nur noch eine Staubschicht die Bühne bedeckt.

Schon früher hat mich manchmal gewundert, dass Schiller häufig und manchmal sogar bösartig über Schauspieler herzog, sich jedoch nie über Regisseure beklagte. Erst später habe ich diese Großmut enträtselt. Schiller war vergönnt, was heute keinem dramatischen Dichter mehr beschieden ist: Seine Stücke kamen meist deshalb so wenig beschädigt auf die Bühne, weil es früher noch gar keine Regisseure gab. In der Regel hielt man sich bei Aufführungen an das, was der Autor vorgegeben hatte. Und gerade Schiller war in seinen Anweisungen ebenso penibel wie präzise. Wenn er etwa im Prolog das stumme Spiel der Jungfrau beschreibt, während Bertrand seinen ländlichen Nachbarn berichtet, in welcher Gefahr Orléans schwebt: "Johanna horcht mit gespannter Aufmerksamkeit und setzt sich den Helm auf", den sie kurz vorher an sich genommen hatte. Da haben wir bereits die Essenz des ganzen Stückes.

Ich muss zugeben, dass ich, zumindest an meinem Hauptwohnsitz Berlin, Theater nur noch selten besuche. Vermutlich habe ich einfach zu viel Pech gehabt. Mein ziemlich letzter Besuch galt einer renommierten Vorstellung von Ibsens "Frau vom Meer". Auf der linken Seite der Bühne war - vermutlich als Schutz vor Sturmfluten - eine Steilwand errichtet, etwa so, wie ich sie von Kunstmotorradfahrern auf Jahrmärkten her erinnere. Während der ersten halben Stunde wurde ich dann so von den Kletterkünsten der Schauspieler fasziniert, ständig besorgt, gleich würde jemand abstürzen, dass ich den Text gar nicht wahrgenommen habe. Ob es später anders wurde, weiß ich nicht, denn ich dachte, da ich schon so wichtige Passagen versäumt habe, würde es sich für mich nicht lohnen, zu bleiben und habe das Theater bald verlassen.

Das letzte Mal ist es mir passiert, dass sich mir, kaum hatte sich der Vorhang geöffnet, der Eindruck vermittelte, ich wäre ins falsche Gebäude geraten, sei nicht in ein Theater gegangen, sondern in den Zirkus. Später bin ich dann gleich ins Varieté gegangen. Schon weil die Künstler im Wintergarten besser hüpfen und klettern können. Obendrein bleibe ich dort davor bewahrt, dass mir die Schauspieler plötzlich ihre nackten Hintern vor die Nase halten, was noch zu den harmlosesten Partien und Tätigkeiten im Rahmen der heute üblichen Entblößungen gilt. Wer sich gar ins Parkett, erste Reihe traut, ist schließlich nicht mal davor geschützt, von der Bühne herunter mit Mehl bestäubt oder angepinkelt zu werden.

Ob damit die Quelle zur Glückseligkeit geöffnet wird, wie es Schiller vom Theater erwartet, mag ich nicht entscheiden. Es geht um Schillers Forderung, das Theater müsse moralische Anstalt sein. Als Quelle dafür diente eine Rede, die der Dramatiker in Mannheim im Juni 1784 gehalten hat, obwohl sein Anspruch so direkt im Text noch gar nicht vorkam, sondern erst 18 Jahre später, und dann auch von ihm nur in die Überschrift hinein redigiert worden ist.

Ich mag nicht beurteilen, ob die dramatische Kunst, wie Schiller dort behauptet, wirklich mehr voraussetzt als jede andere ihrer Schwestern. Vordringlich ist mir in diesem Zusammenhang nur der Umstand, dass alle, die in dieser Gattung schreiben - egal ob nun ein Stück für die Bühne, für den Film oder fürs Fernsehen - etwas gemeinsam haben: Das Produkt ihrer Arbeit benötigt die Aufführung. Erst mit ihr erhält sie ihre Wirklichkeit. So entsteht der Eindruck, die Aufführung sei die Leistung einer Gemeinschaft, eines Teams.

Selbstverständlich ist das nicht ganz falsch. Nur wird meist vergessen, dass so ein Team ohne den Autor gar nicht vorhanden wäre. Ihm verdankt sie erst ihre Existenz. Lange vorher hat sich nämlich ein Autor alleine, häufig genug sogar einsam, ein paar Menschen ausgedacht, mit einer Geschichte, in der diese Menschen handeln. Was man zu sehen bekommt, sind die Produkte der Fantasie eines Autors. So steht am Anfang, wie es im Johannes-Evangelium heißt, nicht einmal das Wort, sondern die Idee. Und was wiederum Fantasie und Ideen anlangt, so fürchte ich, werden Autoren dann und wann schon etwas unterschätzt.

Wenn ich beispielsweise erleben muss, wie etwa die Idee des Künstlers Haacke, im Reichstag einen geräumigen Pflanzenkübel aufzustellen, mit der anmutigen Leuchtschrift drüber "Der Bevölkerung", in den dann jeder Abgeordnete, wie anno Hitler, mythische Heimaterde hineinschütten soll aus seinem Wahlkreis - damals hätte man wohl eher aus seinem Gau gesagt -, und dieser Einfall dann als so bedeutend eingestuft wird, dass tagelang darüber debattiert wird, sich selbst der gesamte Bundestag damit befassen muss - dann denke ich allerdings, dass jeder einigermaßen talentierte Fernsehautor ein Dutzend solcher Ideen pro Woche abliefern könnte - und auch muss.

Auf einem anderen Blatt steht, wie es um Ideen und mit der Fhantasie einiger Regisseure, insbesondere beim Theater, bestellt ist. Ihnen selbst fällt offenbar nichts ein, sonst würden sie ja selbst Stücke schreiben. Aber dazu reicht es nicht. Der Motor ihrer Fantasie scheint erst dann anzuspringen, nachdem sie gelesen haben, was andere sich ausgedacht hatten. Sie veranstalten ihre Kunstturnübungen auf dem Rücken von Autoren, beuten sie aus und vergewaltigen sie. Autoren werden von diesem Machtanspruch von der Bühne vertrieben, besonders gründlich, wenn diese Regisseure in Personalunion als Intendanten tätig sind.

Autoren, die fürs Fernsehen arbeiten, sind tatsächlich noch nie überschätzt worden - nicht einmal innerhalb ihrer eigenen Gilde. So ist selbst einem Samuel Beckett, als er für das Fernsehen des Süddeutschen Rundfunks mehrere Stücke schrieb - sie übrigens dort vorsorglich selbst inszenierte - ein Grimme-Preis nicht gegönnt worden. Allerdings dürfte ihn der Nobel-Preis darüber hinweggetröstet haben.

Bis jetzt habe ich die naheliegende Frage vermieden, ob einer wie ich, der während der vergangenen Jahrzehnte auf dem dramatischen Gebiet ausschließlich für das Fernsehen gearbeitet hat, dieser Auszeichnung, des Schiller-Preises, überhaupt würdig sei. Ich habe sie so lange hinausgezögert, weil ich die ungleich wichtigere Frage vorbereiten wollte, nämlich die, ob unser Theater, jedenfalls jene Sorte, die am lautesten lärmt, von vielen Großfeuilletons am ausführlichsten gewürdigt wird, für das Leben unserer Gesellschaft überhaupt noch von Bedeutung ist. Ob also dieses Theater demnach noch als moralische Anstalt wirksam sein kann, ob also, wie es in Schillers Text heißt, "die Oberhäupter und Vormünder des Staats von der Schaubühne aus die Meinungen der Nation über Regierung und Regenten" erfahren und damit zurechtgewiesen werden können.

Dann hätte Claus Peymann recht, einer, der sich stets am weitesten vordrängt, und etwa behauptet: "Die eiserne Lunge oder mehr Fahrradwege - das ist doch uninteressant im Vergleich zum Theater." Oder dass "Theater wichtiger seien als Krankenhäuser, einschließlich der Charité". Wobei ich der zuletzt zitierten Behauptung bedenkenlos zustimmen könnte, wenn ich sie mit einem kurzen Nebensatz ergänzen dürfte: Theater sind wichtiger als Krankenhäuser, solange man gesund ist. Nur begnügen die Bühnen sich damit nicht, sondern behaupten auch noch, sie seien "der intellektuelle Reißzahn im Regierungsviertel" oder: "Berlin als Metropole kann ohne uns überhaupt nicht existieren".

Da kann ich die Möglichkeiten nicht ausschließen, dass sie ihre Bedeutung überschätzen. Wenn sie jedoch gleichzeitig darauf verweisen, dass in anderen Städten "eine ganz andere Aufrüstung" - das ist wörtlich zitiert - auf kulturellem Gebiet stattfindet, weil sie wissen, dass das "eine Branche mit Zukunft ist", dann kommt einem schon der Verdacht, es gehe Peymann und vielen seiner Kollegen gar nicht um die Kunst, sondern eher um das, was von ihnen fast noch leidenschaftlicher, in jedem Fall häufiger, diskutiert wird, um die Knete, um Subventionen, die Peymann, was sein Theater angeht, als aktive Sterbehilfe einordnet.

Kollege Frank Castorf lässt uns wissen, dass die Arbeit in seinem Theater "bei diesen finanziellen Verhältnissen ein Akt der Selbstausbeutung" sei. Wäre es so, dann hätte wiederum Schiller bereits das Problem beschrieben, als er, ohne Peymann und Castorf zu kennen, in den Xenien zur Kunst notierte: "Einem ist sie die hohe, die himmlische Göttin, dem andern eine tüchtige Kuh, die ihn mit Butter versorgt."

Nun ist es gewiss nicht einfach, mit einem gewerkschaftlich organisierten Personal, Kunst zu produzieren mit allen Problemen, die von der ÖTV ausgehandelte Tarife mit sich bringen. Doch richtig ist ebenfalls, dass jemand, der die monströser Verschwendung ähnelnde Freigebigkeit, mit der viele Theater mit Geld umgehen, sich etwas gründlicher ansieht, die Einsicht erlangen muss, dass die Millionen offenbar vom Himmel regnen und nicht überwiegend aus einer Lohnsteuer stammen, die beispielsweise aufgebracht wird von Postboten, Kassiererinnen im Supermarkt und Krankenschwestern.

Häuptlingsträume

Mit all dem will ich nicht behaupten, dass wir unser Geld ebenso gut zum Fenster rausschmeißen könnten, wie es dem Theater zu geben. Prinzipiell sind Theater ja nicht zu teuer, nur für das, was viele uns zu bieten haben, halte ich sie für überbezahlt. Vor allem jedoch fällt es mir schwer zu erkennen, wie Theater heutzutage auf die Gesellschaft einwirken wollen. Und das, behaupten viele ihrer Häuptlinge schließlich, sei der wesentliche Grund für ihre Existenz.

Die Theater also als moralische Anstalt?

Leider traue ich mir nicht einmal zu, darüber zu befinden, ob Theater noch über moralische Maßstäbe verfügen oder verfügen wollen, schon weil ich mich in Sachen Moral nicht für einen Experten halte. Gottlob hat Schiller die Moral, die er meinte, selbst sauber definiert. Er glaubte, "dass uns die Bühne mit Schicksalen der Menschheit bekannt macht, sie lehrt uns auch gerechter gegen den Unglücklichen sein und nachsichtsvoller über ihn zu richten." Und er sagt, wie das alles wirken soll: "Die Schaubühne ist der gemeinschaftliche Kanal, in welchen von dem denkenden bessern Teile des Volkes das Licht der Weisheit hinunterströmt und von da aus in milderen Strahlen durch den ganzen Staat sich verbreitet." Die Welt verändern mithilfe des Theaters also.

Das ist nicht verwerflich, nur ergibt sich die Frage: Wie soll das heutzutage vor sich gehen? Zweifellos bestimmen die Medien unser Leben weit mehr als je zuvor. Ein Politiker, der in den Medien nicht vorkommt, kann seinen Beruf vergessen. Nicht nur Gerhard Schröder ist deshalb ein Medienpolitiker. Nur halte ich es für mehr als unwahrscheinlich, dass er im nächsten Wahlkampf das Theater einbezieht, auch Angela Merkel wird darauf verzichten. Überhaupt niemand, der Volk beeinflussen will, dürfte auf die Idee kommen, dafür Theater zu nutzen. Das zu glauben bleibt allein Intendanten und Regisseuren vorbehalten.

Tatsächlich habe ich den Eindruck, als würde Theater heute an der Peripherie der Gesellschaft spielen, weit außerhalb, weit weg von der wirklichen Welt. Vor allem jedoch eben abseits jeder Einwirkungsmöglichkeit. Um zum letzten Mal aus Schillers Rede zur Wirkung des Theaters zu zitieren: "dass Karl Moors unglückliche Räubergeschichte die Landstraßen nicht viel sicherer machen wird - aber wenn wir auch diese große Wirkung der Schaubühne einschränken - wie unendlich viel bleibt noch von ihrem Einfluss zurück? Wenn sie die Summe der Laster weder tilgt noch vermindert, hat sie uns nicht mit denselben bekannt gemacht? - Mit diesem Lasterhaften, diesen Toren müssen wir leben. Wir müssen ihnen ausweichen oder begegnen; wir müssen sie untergraben oder ihnen unterliegen. Jetzt aber überraschen sie uns nicht mehr. Wir sind auf ihre Anschläge vorbereitet. Die Schaubühne hat uns das Geheimnis verraten, sie ausfindig und unschädlich zu machen. Sie zog dem Heuchler die künstliche Maske ab und entdeckte das Netz, womit uns List und Kabale umstrickten. Betrug und Falschheit riss sie aus krummen Labyrinthen hervor und zeigte ihr schreckliches Angesicht dem Tag."

Ich kann mir nicht helfen, aber ich finde, hier beschreibt Schiller eher Arbeit im Fernsehen als die des Theaters. Heute wird die Macht nicht auf der Volksbühne verteilt oder auf der Bühne des Berliner Ensembles. Das geschieht hauptsächlich durch das Fernsehen. Ob man das eher begrüßen oder beklagen soll, gehört nicht zu meinem Thema. Ich möchte nur darauf verweisen, dass wir, die fürs Fernsehen arbeiten, uns nach dieser Verantwortung nicht gedrängt haben. Sie ist uns zugefallen. Einfach so. Nachdem die klassischen Vorbilder und Erzieher, Könige, Kanzler, Parteisekretäre, Pfarrer, Lehrer und selbst Eltern ihren Einfluss weitgehend eingebüßt hatten, richteten sich die Bürger immer mehr nach dem, was sie bei uns im Fernsehen mitbekamen. Das war nie, ich wiederhole es, von uns so gewollt.

Den meisten, die fürs Fernsehen tätig sind, ist diese uns zugefallene Autorität sogar bis heute nicht einmal bewusst. Und wie wir mit ihr umzugehen haben, wissen noch weniger. Anders ist ja die unendliche Masse an täglichem Müll auf den Bildschirmen gar nicht zu erklären. Aber das gleiche Fernsehen bietet eben hin und wieder jene großen Stunden, die es zu einer moralischen Anstalt machen können.

Schillers Thesen, vom Pathos befreit, könnten diesen Prozess wahrscheinlich hilfreich begleiten; man müsste sich nur mal mit ihnen beschäftigen. Ich gehe sogar so weit, zu behaupten, dass Schiller, würde er heute leben, auch oder vielleicht sogar ausschließlich für das Fernsehen schreiben würde. Er hätte gewusst, dass er die Welt, die er verändern wollte, dort erreicht und nicht mehr vom Theater aus. Das wäre auch deshalb zu begrüßen, weil er, wie nur ganz wenige, szenisch gedacht und geschrieben hat und, auch das sollte nicht verschwiegen werden, er ist, wie Egon Friedell meinte, ein Genie der Kolportage gewesen: jener Gattung Kolportage, wie sie von Ibsen, Shakespeare, Dostojewski und Balzac perfekt geschrieben wurde. So würde er selbst einen "Tatort" nicht als unter seiner Würde bewerten, vermutlich sogar mit Vergnügen schreiben, ohne auf seinen Anspruch verzichten zu müssen, für eine moralische Anstalt zu arbeiten. Nur wäre diese dann nicht das Theater, sondern das Fernsehen, als moralische Anstalt des öffentlichen Rechts.

Wolfgang Menge

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