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Gesundheit: Alkoholsucht ist heilbar

Intensive Betreuung und neue Medikamente können Alkoholikern helfen, ihre Sucht zu überwinden. Die meisten Betroffenen erhalten jedoch nicht die erforderliche Unterstützung, kritisierten Experten kürzlich auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde in Berlin.

Intensive Betreuung und neue Medikamente können Alkoholikern helfen, ihre Sucht zu überwinden. Die meisten Betroffenen erhalten jedoch nicht die erforderliche Unterstützung, kritisierten Experten kürzlich auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde in Berlin.

Rund zwei Millionen Alkoholabhängige leben in Deutschland, doch nicht einmal jeder Zwanzigste wird angemessen behandelt, betonte Jobst Böning von der Nervenklinik der Universität Würzburg. Dabei hätte die Politik jede Menge Gründe zum Handeln: Die Lebenserwartung von Alkoholikern liegt etwa 15 Jahre unter dem Durchschnitt, jeder siebente Betroffene begeht Selbstmord.

"Täglich drei voll besetzte Jumbos"

"Wir haben 42 000 Tote pro Jahr, das entspricht dem Absturz von täglich drei voll besetzten Jumbo-Jets", sagte Böning, der gerade zum Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft gegen die Suchtgefahren gewählt wurde. Zudem beliefen sich die Kosten für die Krankheit hier zu Lande auf etwa 100 Milliarden Mark pro Jahr. Was die Experten vor allem aufregt, ist die Tatsache, dass es entgegen weit verbreiteter Vorurteile sehr wohl möglich ist, die Sucht nach dem Alkohol durch eine Behandlung zu überwinden.

Spezialisierte Kliniken erreichen eine Abstinenzrate nach einem Jahr von 60 bis 70 Prozent. Die Patienten erhalten sechs Wochen bis drei Monate lang eine intensive Psychotherapie. Nach fünf Jahren sind immer noch 40 bis 50 Prozent der Behandelten abstinent, sagt Karl Mann, Direktor der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. "Diese Erfolgsquote ist nicht schlechter als bei anderen Volkskrankheiten wie zum Beispiel Bluthochdruck oder Diabetes."

Das Problem besteht darin, dass gerade einmal ein bis zwei Prozent der Betroffenen in derartigen Kliniken versorgt werden. Drei bis vier Prozent werden kurzfristig beim Psychiater behandelt; immerhin sieben bis acht Prozent suchen eine Beratungsstelle auf. Andererseits zeigt die Statistik, dass etwa 80 Prozent aller Alkoholiker mindestens einmal im Jahr ihren Hausarzt sehen. Im weitaus größten Teil dieser Fälle nimmt dieser die Krankheit jedoch nicht zur Kenntnis, oder er behandelt sie nicht. Der mitunter schwierige Umgang mit Alkoholikern kann die Versorgungslücke nur zum Teil erklären, sagt Mann, der den einzigen Lehrstuhl für Suchtforschung in Deutschland inne hält.

Therapie sehr aufwändig

Im Studium werde die Erkennung und Behandlung von Suchtkrankheiten ebenso vernachlässigt wie bei der ärztlichen Fortbildung, und "dass in der Prüfung keiner danach fragt und die Suchttherapie von den Krankenkassen nicht ausreichend bezahlt wird, erhöht nicht gerade das Interesse." Dass die Psychotherapie zwar wirksam, gleichzeitig aber auch sehr zeit- und personalaufwändig - und damit teuer - ist, mag ein Grund sein für das geringe Interesse der Gesundheitspolitiker an einer flächendeckenden Versorgung.

Immerhin können auch die beiden Medikamente Naltrexon und Acamprosat die Sucht bekämpfen (siehe Kasten). Bei etwa 20 Prozent liegt die Erfolgsquote mit jedem der beiden Wirkstoffe und damit etwa doppelt so hoch wie mit einem Scheinmedikament. In der ersten Studie zur kombinierten Gabe von Naltrexon und Acamprosat, die jetzt in Berlin präsentiert wurde, sei man sogar bei 40 Prozent der Süchtigen erfolgreich gewesen, sagt Mann.

Ebenfalls neu ist eine Studie unter der Leitung von Manns Mitarbeiter Andreas Heinz, der einen Zusammenhang sichtbar machen konnte zwischen dem unterschiedlich starken "Saufdruck" (Craving) mehrerer Süchtiger und der Aktivität bestimmter Empfangsmoleküle (der so genannten Mu-Opiat-Rezeptoren) im Gehirn der Betroffenen. Je mehr Rezeptormoleküle im Stirnhirn der Süchtigen vorhanden waren, desto größer war die Wahrscheinlichkeit für einen Rückfall trotz der Einnahme von Naltrexon. Im Umkehrschluss, glaubt Mann, könnten mit derartigen Untersuchungen diejenigen Patienten identifiziert werden, welche eine besonders intensive Betreuung benötigen.

Wichtige Hinweise auf neue Therapiemöglichkeiten erhalten die Wissenschaftler auch aus Tierversuchen, betont Suchtforscher Böning. An der Sucht sind nämlich beim Menschen wie bei der Ratte die gleichen Hirnschaltkreise beteiligt. Sie sind eng verbunden mit den Systemen, die auch grundlegende Verhaltensweisen wie Neugier, Hunger oder die sexuelle Erregung steuern.

Medikamente gegen die Rückfallgefahr

Die Vermeidung von Rückfällen ist das wichtigste Ziel bei der Behandlung des Alkoholismus. Dafür setzen Ärzte bevorzugt die beiden Arzneien Acamprosat (Handelsname Campral) und Naltrexon (Handelsname Revia) ein. Als so genannte Anti-Craving-Substanzen verringern beide Arzneien das Verlangen nach einer Droge, indem sie die Übertragung von Botenstoffen des Gehirns beeinflussen.

Naltrexon blockiert bestimmte Empfangsstationen für Opium-artige Substanzen in der Hülle von Nervenzellen, die so genannten Mu-Opiatrezeptoren. Damit wird letztlich das Glücksgefühl verringert, welches unser Gehirn als Reaktion auf bestimmte Drogen erzeugt.

Acamprosat wirkt auf den wichtigsten erregenden Botenstoff des Gehirns, das Glutamat. Durch den langfristigen Missbrauch von Alkohol verändern sich bestimmte Empfangsmoleküle für Glutamat, was zu einer Übererregung der Nervenzellen führt. Diese Übererregung macht sich besonders beim Entzug bemerkbar und kann durch Acamprosat gemildert werden, weil die Arznei die Veränderungen der Rezeptormoleküle teilweise wieder umkehrt. Weder Acamprosat noch Naltrexon macht süchtig. Das unterscheidet diese Substanzen von "Ersatzdrogen" wie Methadon, welches manchen Heroinsüchtigen als das "kleinere Übel" verschrieben wird.

Michael Simm

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