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Gesundheit: Am Jostedalsbreen in Norwegen wachsen die Eismassen

In den Alpen und Nordamerika schmelzen die Gletscher. Nur eine geringe Erwärmung der Durchschnittstemperatur um 0,6 Grad ist die Ursache.

In den Alpen und Nordamerika schmelzen die Gletscher. Nur eine geringe Erwärmung der Durchschnittstemperatur um 0,6 Grad ist die Ursache. In Norwegen wachsen dagegen die Gletscher. Wer 1983 am größten Plateaugletschers Kontinentaleuropas, dem Jostedalsbreen, noch Augenzeuge des Gletscherrückgangs war, reibt sich im Jahr 1999 die Augen. Haushohe Eismassen rücken kontinuierlich vor. Seit dem Ende der 80er Jahre sind daraus Hunderte von Metern geworden. Die Gletscherzungen verschlucken Eisseen, die noch in den achtziger Jahren den Boden bis zur Endmoräne gefüllt hatten.

Am Jostedalsbreen hat jede Gletscherzunge einen anderen Namen. Am dramatischsten ist der Vorgang am Brigsdalsbreen zu beobachten, dem Touristenmagneten im Oldental am Nordfjord. Wo noch zu Beginn der achtziger Jahre ein mehrere hundert Meter großer Gletschersee an ein Birkenwäldchen grenzte, haben die vom Jostedalsbreen herunterfließenden Eismassen inzwischen den See verschluckt. Und die Seitenmoränen wälzen schon die Birken platt. Um 441 Meter ist der Brigsdalsbreen seit 1988 vorgestoßen.

Ein Ende ist nicht abzusehen. Denn der bisherige Vorstoß des Eises geht auf starke Schneefälle in den 70er Jahren zurück. Sechs Jahre dauert es in diesen Breiten, bis sich die Schneekristalle so verdichten, dass sie sich in Gletschereis verwandeln. Die noch stärkeren Schneefälle der achtziger Jahren werden erst nach der Jahrtausendwende bei den Gletscherzungen für weiteren Druck sorgen.

Im benachbarten Loental ist es nicht anders. 1983 war die dortige Zunge des Jostedalsgletschers, Kjenndalsbreen genannt, soweit zurückgewichen, dass der Talboden fast eisfrei blieb. In den Sommermonaten war er von Schneematsch bedeckt, der sich aus dem Aufprall herabstürzender Eismassen bildete. Wasserfälle schossen von allen Seiten ins Tal, und stündlich konnte man an warmen Tagen Zeuge von Eisabbrüchen werden. Der Kjenndalsbreen befand sich 1983 in Auflösung. Heute erstreckt sich wieder ein haushoher Eispanzer in den Talboden. Eine Kathedrale hat sich aufgebaut - so nennen Engländer und Skandinavier jene Eispfeiler, die am Ende eines Gletschers das Tor flankieren, aus dem das Eiswasser fließt.

Die Nationalparkverwaltung des Jostedalsbreen hat eine einfache Erklärung für das Phänomen: In den siebziger und achtziger Jahren hat es in den Wintern so intensiv geschneit, dass sich auf dem Plateau des Jostedalsbreen wieder mehr Eis bildete als in den relativ kühlen Sommern abschmelzen konnte. Die heißen Sommer der 90er Jahre haben das Wachstum der Gletscherzungen nicht zum Stillstand gebracht.

Gletscher verändern sich langsam, obwohl sie im Verlauf der Jahrzehnte dennoch mit erstaunlicher Geschwindigkeit vorrrücken können. Das jetzt am Fuße der Gletscherzungen sich auftürmende Eis hat 1000 Jahre benötigt, um vom Plateau aus 1600 Meter Höhe herabzufließen.

Der Jostedalsbreen ist ein Phänomen.Während in den Alpen die Gletscher in 3000 Meter Höhe beginnen, sind in Skandinavien Gletscher ab 1300 Metern Höhe üblich. So ist es im Nachbargebirge, in Jotunheimen, der Fall. Der Jostedalsbreen schlägt auch hier alle Rekorde. Zum Fjaerlandfjord hin bricht seine Gletscherzunge über den Flatbreen so steil an einer Felskante ab, dass sich die abstürzenden Eis- und Schneemassen Hunderte Meter tiefer erneut zu einem kleinen Gletscher geformt haben: Er reicht bis auf 60 Meter über den Meeresspiegel.

Lange Zeit haben die Wissenschaftler geglaubt, dass der Jostedalsbreen ein Überbleibsel der großen Eiszeit war, die um 80 000 vor der Zeitenwende begann und bis zum Jahr 10 000 dauerte. Auch der Jostedalsbreen als der größte Plateaugletscher Kontinentaleuropas ist trotz aller Ähnlichkeiten, die er mit Grönland und Island verbindet, nach der letzten Eiszeit in der anschließenden Wärmeperiode restlos verschwunden. Das haben neue Pflanzen- und Pollenfunde sowie Gesteinsforschungen ergeben. Dabei lag die Jahresdurchschnittstemperatur in der Wäremperiode nur um zwei Grad höher als in der anschließenden Kälteperiode ab dem Jahre 5800, als sich auf dem Jostedalsbreen erneut Eis bildete und die Gletscher wieder zu wachsen begannen. Heute liegt der Jostedalsbreen wie eine gewaltige Barriere aus Eis und Schnee zwischen dem Sognefjord und dem Nordfjord. Beide Fjorde haben auch deswegen so riesige Ausdehnungen in viele Seitenfjorde, weil sie die Entwässerungsadern von den Gletschern zum Nordatlantik bilden.

Der bis zu 600 Meter starke Eisblock, der sich auf dem Jostedalsbreen in einer durchschnittlichen Höhe von 1600 Metern gebildet hat, ist zugleich eine Wetterscheide. Was man früher nur als Bergsteiger oder als Hörer der Wetterberichte im norwegischen Rundfunk erleben konnte, wird jetzt anschaulich: Wenn der Südwestwind über Norwegen streift, hängen sich die Wolken in den Seitentälern des Jostedalsbreen am Sognefjord fest, während die nördlichen Täler hinter dem Bergrücken bis hin zum Nordfjord im strahlendem Sonnenwetter liegen. Umgekehrt gilt das Phänomen für die Winde aus dem Nordosten! Sie bescheren der Nordseite des Jostedalsbreen wolkenreiches Wetter und lassen die südlichen Täler am Sognefjord im Sonnenschein. Das gilt natürlich nur für Wetterlagen, die nicht von zentralen Tiefdruckgebieten geprägt sind. Heute erleben die Touristen diesen Wetterwechsel, wenn sie den neuen, sechseinhalb Kilometer langen Tunnel unter dem Jostedalsbreen von nördlichen Skei zum Fjaerlandfjord durchqueren und sich so mit dem Wechsel der Winde sonnenbeschienene Ausflüge ermöglichen.

Keine Erklärung haben die Gletscherforscher für die Tatsache, dass die Gletscherzungen des Jostedalsbreen zum Nordfjord viel schneller und umfassender wachsen, während sie im Südosten auf der anderen Seite zum Sognefjord nur langsam vorrücken. Auch dort nehmen die Gletscherzungen zu: am Nigardsbreen seit 1988 um 179 Meter. Dieses Wachstum ist noch nicht zu vergleichen mit der dramatischen Zunahme des Nigardsbreen um 1740, als die Eismassen bis an die heutige Straße im Jostedal reichten und nicht nur Wälder, sondern auch Felder und Bauerngehöfte zerstörten. Ein Bauer klagte auf Schadenersatz. Der dänische König ordnete damals an, dass zur Klärung des Falles ein Pfarrer im Jostedal das Vordringen der Gletscher vermessen sollte. Der Pfarrer Mathias Foss notierte: "Aber von der berichteten Zeit bis zum Jahrestag danach im Jahre 1743 hatte sich der Gletscher nicht nur die 100 Ellen in die Länge geschoben, sondern auch unermesslich in die Breite, dabei die Häuser fortgerissen, sie umgestürzt und vor sich her gewälzt mit einer unermesslichen Menge Erde, Kies und Steinen vom Abgrunde und sie in ganz kleine Stücke zermalmt, die noch zusehen sind."

Seine Angaben sind heute noch Grundlage für die Darstellung von Gletscherwachstum in früheren Jahrhunderten. Unmittelbar nach der kleinen Eiszeit im 18. Jahrhundert gab es eine Erwärmung in der Durchschnittstemperatur. Einzelne Gletscherzungen des Jostedalsbreen schmolzen bis zu vier Kilometer - heute wachsen wie wieder.

Uwe Schlicht

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