zum Hauptinhalt

Gesundheit: Auf der Spur der "Sprache hinter dem Sprechen"

Haben Linguisten ihr Forschungsgebiet selbst erfunden?Daniel D.

Haben Linguisten ihr Forschungsgebiet selbst erfunden?Daniel D. Eckert

Welche Sprache haben Adam und Eva im Paradies gesprochen? Diese Frage hat die Gelehrten über die Jahrhunderte in Bann geschlagen. Den Staufer-Kaiser Friedrich II. ließ sie gar alle Menschlichkeit vergessen. Er suchte im 13. Jahrhundert die ultimative Antwort in einem furchtbaren Experiment. Er ließ zwei Kleinkinder von Ammen großziehen, denen verboten war, auch nur ein einziges Wort mit den Kleinen zu reden. Das erste Wort, dass sie von selbt hervorbrächten, musste die Ur-Sprache sein, vermutete der Kaiser. Doch die Kinder starben früh - ohne ein Wort gesagt zu haben.

Vielleicht ist es dieselbe alte Neugier auf die Ursprache, die Linguisten heute antreibt, die grammatischen Regeln in unserem Hirn zu studieren. Diese verborgenenen Gesetze, die aufwendig erschlossen werden müssen, halten sie für die wahre Sprache. Das Sprechen ist für die Linguisten dagegen nur eine unvollkommene Anwendung dieses zum Teil angeborenenen Regelwerks.

Gegen diese Ansicht regt sich Widerstand - vor allem bei Nichtlinguisten. Ist die "wahre" Sprache nur eine nützliche Erfindung derjenigen, die sie studieren? Das fragt die Freie Universität Berlin in einer Ringvorlesung mit dem Titel: Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen? Ein gutes Dutzend Wissenschaftler aus Philosophie, Anthropologie und Linguistik wollen in den kommenden Wochen dazu Stellung beziehen.

"Im Alltag reden wir nicht in zusammenhängenden Sätzen. Die Vorstellung, dass es ein festes Regelwissen gibt, das unserem Sprechen zugrunde liegt, ist also fragwürdig." Mit dieser ebenso verblüffenden wie provokanten Behauptung brachte die FU-Philosophin Sybille Krämer die Kritik an der gegenwärtigen Linguistik auf den Punkt. Sie und ihr Kollege, der Anglist Ekkehard König, haben die Ringvorlesung konzipiert.

Mit den Buchstaben kam die Sprache

Krämers einführender Vortrag in der vergangenen Woche geriet zu einem Schnelldurchgang durch die Geistesgeschichte des Abendlands. Wenn wir heute wie selbstverständlich annehmen, es gebe die Sprache als abstrakte Einheit jenseits des Sprechens, so ist das nach Meinung der Philosophin das Ergebnis unserer europäischen Schriftkultur. Erst mit der Verbreitung der Buchstabenschrift bei den alten Griechen sei die Vorstellung von "der" Sprache aufgekommen. "Die Schrift bildet die Sprache aber nicht einfach ab; indem sie sie von den übrigen Anteilen des Kommunizierens, etwa den Gesichtsausdrücken oder den Gesten, abspaltet, erschafft sie sie", sagte Krämer. Durch ihre Dauerhaftigkeit ließen die Buchstaben des Alphabets die Illusion entstehen, es gebe ein überzeitliches Etwas, das von der Tätigkeit des Sprechens und dem schnell verklingenden Laut unabhängig ist.

Für Krämer durchziehen zwei Traditionslinien das "Sprachdenken" (so heißt es im Philosophenjargon, wenn man sich über die Sprache und das Sprechen Gedanken macht) des 20. Jahrhunderts: die einen glauben, das Sprechen ohne Rückgriff auf eine abstrakte Sprache verstehen zu können und begnügen sich damit, den Akt des Sprechens selbst zu erfassen. Das Sprechen sei einfach ein Verhalten, das ohne vorherige Beachtung von Regeln auskommt. Auch die hohe Wissenschaft ist danach nur eine Form des alltäglichen Sprechens.

Die anderen dagegen suchen unermüdlich nach den Regeln hinter dem Sprechen, also nach der "wahren" Sprache. In der Hingabe an dieses verborgene Abstraktum will die Philosophin sogar eine verkappte religiöse Sehnsucht nach dem Vollkommenen ausgemacht haben.

In der akademischen Linguistik des zurückliegenden Jahrhunderts dominierte die Idee von der Sprache hinter dem Sprechen. Bereits zu Beginn des Jahrhunderts bestimmte der Genfer Gelehrte Ferdinand de Saussure die Sprache als eine kollektives Wissen, an der die Sprecher irgendwie Anteil haben. Das Sprechen selbst erklärte er zum mehr oder weniger mangelhaften Gebrauch dieses Wissens.

In den späten 1950er Jahren begründete der Amerikaner Noam Chomsky dann die "generativistische" Schule der Sprachforschung. Generativismus hört sich ein wenig nach Generator an, und hat insofern damit zu tun, als es bei beiden darum geht, dass etwas erzeugt wird: der Generator erzeugt Strom, während die so genannte "mentale Grammatik" Sätze erzeugt. Chomsky verlagerte Saussures "Sprachsystem" aus der Gesellschaft in die Köpfe der individuellen Sprecher. Sprache, so definierte er, ist das unbewusste Wissen, das es jedem einzelnen von uns ermöglicht, beliebig viele Sätze zu "generieren".

Unbewusstes grammatisches Wissen

Ziel der Chomsky-Anhänger ist es, die unbewusste Regelwerk, das man sich sehr viel komplizierter vorstellen muss als das, was uns in der Schule als Grammatik eingebleut wurde, immer genauer zu beschreiben - und vielleicht irgendwann mit neurochemischen Prozessen in unserem Denkorgan in Beziehung zu bringen. Sollte dies gelingen, erhielte auch der Ausdruck von der "mentalen Grammatik" seine volle Berechtigung. Wie schon bei Saussure ist die unsichtbare "Sprache" im Gehirn das Entscheidende, nicht das Sprechen. Sie zu entschlüsseln, ist die eigentliche Aufgabe der Linguistik, wozu die Untersuchung konkreter sprachlicher Äußerungen, die immer unvollkommen bleiben, nur ein Mittel abgibt. Methodisch ist die Arbeit der Linguisten dieser Schule an der Analyse von Sätzen orientiert, aus deren logischem Aufbau sie Aussagen über die Struktur der mentalen Grammatik ableiten.

Dass derlei grammatisch korrekte Sätze in jeder Sprache "natürlich" vorkommen, genau das bestreitet die Philosophin Sybille Krämer indessen. "Sätze, wie wir sie kennen, sind aus der akademischen westlichen Argumentationskultur erwachsen und später durch Schulgrammatiken normiert worden", erklärte sie. Die jetzige Linguistik würde also das, was sie sich zu erforschen vorgenommen hat, erst selber hervorbringen. Hätte Krämer recht, liefe das in letzter Konsequenz darauf hinaus, dass sich der Gegenstand der modernen Sprachwissenschaft in Luft auflöste. Eine Aussicht, an der die meisten akademischen Linguisten kaum Gefallen finden dürften. Daher kann man auf deren Erwiderungen gespannt sein.Heute und an allen folgenden Dienstagen bis einschließlich 18. Juli, jeweils von 18 bis 20 Uhr, äußern sich Befürworter und Gegner zur Frage, ob es eine Sprache hinter dem Sprechen gibt. Ort der Veranstaltungen ist der Raum J 32/10 in der Habelschwerdter Allee 45.

Daniel D. Eckert

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false