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Gesundheit: Brücke zum Geist

Warum die Stützzellen des Gehirns mehr sind als nur Klebstoff

Das Hirn kam per Post. Marian Diamond verschlug es fast den Atem, als sie das kleine Päckchen in ihren Händen hielt. „Rate mal, was hier drin steckt, Jerry“, sagte sie dem Hausmeister. Achselzucken. Dann ließ sie die Katze aus dem Sack: „Teile von Einsteins Gehirn.“ Daraufhin der Hausmeister, ungläubig: „Ach, Marian, hör doch auf...“

Marian Diamond hatte den Hausmeister nicht angelogen. Es war kein Scherz. Die Neuroanatomin der Universität von Kalifornien in Berkeley hielt tatsächlich vier zuckerwürfelgroße Stücke vom Hirn des Physikgenies in der Hand. Der Pathologe Thomas Harvey, der 1955 Einsteins Autopsie vorgenommen hatte und seitdem dessen zerstückeltes Gehirn in einem Plastikbehälter mit Formaldehyd aufbewahrte, hatte der Wissenschaftlerin die Gewebeproben geschickt.

Ob sich in ihnen das Geheimnis der Genialität verstecken würde? Sofort machte sich die Anatomin an die Arbeit, sezierte die Würfel zu hauchdünnen Schnitten und legte sie unters Mikroskop. Da offenbarte sich etwas Erstaunliches. Alles schien zunächst normal. Verblüffend war nur: Einsteins Hirnproben zeigten durchgehend mehr „Stützzellen“ als bei Normalsterblichen.

Das Gehirn besteht nicht nur aus den 100 Milliarden Nervenzellen, den Neuronen, sondern auch aus Zellen, die diese Neuronen stützen, Stütz- oder „Gliazellen“. Gliazellen gibt es in zwei Formen. Die Astrozyten, die wie Sterne aussehen, bilden eine Brücke zwischen den Blutgefäßen und den Neuronen und versorgen diese so mit Nahrungsstoffen. Andere Gliazellen wickeln sich dagegen um die Fortsätze der Neuronen und bilden so eine Isolierschicht. Das Wort „Glia“ stammt aus dem Griechischen und heißt Klebstoff. Der Berliner Pathologe Rudolf Virchow hatte den Hirnzellen bereits Mitte des 19. Jahrhunderts diesen abschätzigen Namen gegeben. Er meinte: Die Gliazellen sind nur die Diener der Nervenzellen. Sie, die Neuronen, sind die Herren im Hirn, mit denen wir wahrnehmen, denken und fühlen.

Diese Sicht hat sich in den letzten Jahren geändert. Zwar glauben Hirnforscher nach wie vor, dass die Neuronen die Hauptdarsteller des Theaters im Kopf sind. Immer mehr Befunde jedoch sprechen dafür, dass die Gliazellen mehr als nur geistlose Stützen der Nervenzellen sind.

„Endlich bekommen die Gliazellen die Aufmerksamkeit, die sie verdienen“, sagt Maiken Nedergaard, Neurophysiologin am New York Medical College in Valhalla. Die Stützzellen, glaubt sie, beeinflussen „unsere Wahrnehmung, unser Gedächtnis, unser Denken“. Der Gliaforscher Douglas Fields von den Nationalen Gesundheitsinstituten der USA geht noch einen Schritt weiter: „Vielleicht ist es ja die höhere Konzentration von Gliazellen, die manche Menschen zu Genies macht.“

Eine gewagte Vermutung – und doch gibt es Hinweise, die dafür sprechen:

Je komplexer ein Tier, desto mehr Gliazellen besitzt er im Verhältnis zu Neuronen. Der Fadenwurm verfügt über sechsmal so viele Nerven- wie Gliazellen. Bei Maus und Ratte ist das Verhältnis eins zu eins. Beim Menschen kehrt es sich um: Unser Gehirn zählt zehnmal mehr Glia- als Nervenzellen.

Die Gehirne von Ratten, die in einem Käfig aufwuchsen, der mit viel „Spielzeug“, beispielsweise einem Laufrad, ausgestattet war, haben später im Leben mehr Gliazellen pro Neuron als Ratten, die in einem leeren Käfig aufwuchsen.

Der Neurophysiologe Ben Barres von der Stanford-Universität in Kalifornien ließ Nervenzellen in Kultur ohne die sternförmigen Astrozyten heranwachsen. Es zeigte sich, dass die Neuronen nur wenig Kontakte – „Synapsen“ – untereinander bildeten. Als der Forscher Astrozyten hinzufügte, vermehrten sich die Synapsen schlagartig.

Als Faustregel gilt: Je besser ein Gehirn verdrahtet ist, desto besser funktioniert es auch. Damit könnten die Gliazellen tatsächlich entscheidend zu unserer Intelligenz beitragen – auch wenn es für diese Vermutung noch keinen endgültigen Beweis gibt. Warum jedoch hat man die Gliazellen so lange unterschätzt und vernachlässigt?

Das liegt an der Art und Weise, wie sie ihre Informationen austauschen. Neuronen verarbeiten Informationen nicht nur chemisch, sondern auch elektrisch. Wenn ein Neuron aktiv ist, entlädt es sich regelrecht. Dieses „Feuern“ der Zelle lässt sich leicht messen.

Gliazellen dagegen feuern nicht, sie können nur chemisch kommunizieren. Das tun sie mit Hilfe von ATP (Adenosintriphosphat), das Molekül, das nicht nur als Energielieferant dient, sondern offenbar auch ein Botenstoff ist. ATP kann von Gliazelle zu Gliazelle wandern und dafür sorgen, dass diese ihre Kalziumkanäle öffnen – woraufhin Kalzium in die Gliazelle fließt. Experimente zeigen, dass daraufhin auch die Kalziumkonzentration in benachbarten Nervenzellen steigen kann – die Gliazellen tauschen somit nicht nur untereinander, sondern auch mit den Neuronen Botschaften aus.

Früher galt der Ort, an dem sich zwei Neuronen treffen, die Synapse, als „Baustein des Denkens“. „Doch es gibt noch einen Dritten im Bunde: die Gliazelle“, sagt der Hirnforscher Helmut Kettenmann vom Max-Delbrück-Centrum in Berlin. Die Gliazellen sind mehr als nur ein Klebstoff im Kopf – sie sind eine Brücke zum Geist.

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