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Gesundheit: Das erste Wort

Nach 19 Jahren erwacht ein Amerikaner aus dem Koma. Sein Gehirn hat sich teilweise erholt

Ein Mensch im Wachkoma, ein Fall aus den USA, dazu der Vorname Terry: Wer denkt da nicht sofort an Terri Schiavo, die 41-Jährige, die im letzten Jahr starb, nach einer öffentlich ausgetragenen Fehde zwischen Ehemann und Herkunftsfamilie über den Sinn der weiteren künstlichen Ernährung?

Es ist jedoch ein Namensvetter von Terri Schiavo, der in den USA in die Schlagzeilen geraten ist, ein 42-jähriger Mann namens Terry Wallis. Mit 19 Jahren fiel er nach einem schweren Autounfall in die Bewusstlosigkeit. 19 Jahre später sprach er erstmals wieder ein Wort: Er sagte „Mom“, als seine Mutter ihn im Pflegeheim besuchte.

Ein Wunder? Oder ein Zeichen dafür, dass Wachkoma-Patienten die Chance haben, sich auch nach Jahrzehnten noch zu erholen, wenn ihre Angehörigen und das Pflegepersonal ihnen nur so viel Zuwendung schenken, wie Terrys Familie das tat? Antworten auf solche Fragen suchen Mediziner inzwischen auch mit den Verfahren der modernen Bildgebung.

Forscher um Nicholas Schiff vom Weill Cornell Medical College in Manhattan haben im Fachblatt „Journal of Clinical Investigation“ Ergebnisse von Untersuchungen veröffentlicht, die sie im Jahr 2004 starteten, acht Monate nach Terry Wallis’ erstem Wort. Sie setzten dafür eine spezielle Form der Magnetresonanztomographie ein, das „Diffusion Tensor Imaging“. Damit können gerichtete Bewegungen von Wasserstoffmolekülen im Hirngewebe gemessen werden. Mit dieser Methode kann bestimmt werden, wie stark die Schädigungen sind, denn in der gesunden weißen Substanz des Gehirns, in der sich viele Verbindungen von Nervenzellen finden, ist die freie Bewegung der Moleküle eingeschränkt.

Schiff und sein Team fanden bei Wallis Zeichen für neues Wachstum von Verbindungen zwischen Nervenzellen in verschiedenen Regionen der Großhirnrinde und des Kleinhirns. Als Vergleich dienten ihnen gesunde Versuchspersonen, aber auch ein zweiter Patient, dessen Zustand sich seit sechs Jahren nicht verändert hatte. Bei Wallis dagegen zeigten sich eineinhalb Jahre später, als sich sein Zustand nochmals verbessert hatte, weitere Veränderungen im Gehirn. Tests mit einer anderen Methode, dem PET, bei dem der Zuckerstoffwechsel im Gehirn bildlich dargestellt und ihm so bei der Arbeit „zugeschaut“ werden kann, passen zu diesen Befunden. Die Forscher glauben deshalb, dass eine Reorganisation der weißen Substanz im Gehirn von Terry Wallis die Besserung ermöglichte. In einem Kommentar zur Studie zieht Steven Laureys von der Universität im belgischen Liège die Möglichkeit in Betracht, dass die Ärzte bei vergleichbaren Patienten in der Vergangenheit die Hoffnung zu früh aufgegeben haben könnten.

Seit einiger Zeit ist klar, dass sich auch im erwachsenen menschlichen Gehirn Zellen und Verbindungen neu bilden können. „Das Defekt-Dogma ist damit überholt“, sagt der Wachkoma-Spezialist Andreas Zieger vom Evangelischen Krankenhaus in Oldenburg. Dennoch gebe es Neuronen, die nach schweren Schädel-Hirn-Verletzungen für immer verstummt seien.

Terry Wallis allerdings ist im strengen Sinn gar kein Wachkoma-Patient. Schon kurz nach seinem Unfall hatte sich sein Zustand leicht gebessert, sodass die Ärzte ihn – neuen internationalen Gepflogenheiten folgend – nicht mehr als im „vegetative state“ (VS), sondern als im „minimal conscious state“ (MCS) befindlich einstuften: Wallis fixierte seine Angehörigen und folgte ihnen mit den Augen, seine Mimik ließ auf Emotionen wie Freude, Angst und Verzweiflung schließen. In diesen Fällen bestehen deutlich größere Chancen auf eine weitere Besserung als bei „echten“ Wachkoma-Patienten, die zwar ohne Hilfen atmen und einen Tag-Nacht-Rhythmus haben, aber keinerlei Reaktionen auf Umwelt-Reize erkennen lassen. Sie besitzen alle Lebensfunktionen, die vom Stammhirn gesteuert werden. Da aber die Funktion des „Mantels“ (pallium) der Großhirnrinde fehlt, sprechen Mediziner beim Wachkoma präziser vom apallischen Syndrom.

Anders als Terri Schiavo, deren Gehirn aufgrund schwerer Herzprobleme zu wenig Sauerstoff erhalten hatte, war Wallis nach einem Unfall in seinen Zustand gefallen. Unfallopfer haben deutlich bessere Chancen, sich von einem Wachkoma teilweise zu erholen. In der Neurologie geht man davon aus, dass bei ihnen nach einem Jahr noch einiges möglich ist, während bei Fällen wie Terri Schiavo schon nach drei Monaten die Chancen drastisch sinken. Eine Besserung nach so vielen Jahren ist laut Zieger aber auch bei unfallbedingten MCS-Fällen selten: „In der Literatur wurde von 1968 bis 1998 über 35 Patienten berichtet.“

Welche Rolle spielen beim Erwachen die unermüdlichen Versuche der Angehörigen und spezialisierter Pflegekräfte, „ihren“ Patienten wieder in das gemeinsame Leben zu integrieren? „Man kann die Neubildung von Zellen weder erzwingen noch herbeiführen, man kann nur Angebote machen“, sagt Zieger.

An die neuen bildgebenden Verfahren knüpft sich nun die Hoffnung, dass eines Tages die Chancen auf eine Besserung realistischer eingeschätzt werden können. Noch fehlen den Medizinern aber Vergleichsbilder von Patienten vor und nach deren Rückkehr in ein teilweise bewusstes Leben.

Bei aller Freude über Aufwach-„Wunder“: Die Betroffenen bleiben schwer behindert. Auch Terry Wallis wird wohl zeitlebens auf hingebungsvolle Rund-um- die-Uhr-Pflege angewiesen sein. Vom „Wunder der Heilung“ zu sprechen ist jedoch medienwirksamer als der Hinweis auf diese massiven Einschränkungen.

Adelheid Müller-Lissner

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