zum Hauptinhalt

Gesundheit: Den Verführungen der Ideologie widerstehen

Journalistischer Augenzeuge: Wie ich die Geschichte der Freien Universität erlebte/Von Uwe Schlicht

Seit 40 Jahren berichtet Uwe Schlicht für den Tagesspiegel über Bildung. Für seine Verdienste verlieh ihm jetzt die Freie Universität Berlin die Ehrendoktorwürde. Wir dokumentieren einen kleinen Auszug aus seinem Festvortrag.

Als ich im September des Jahres 2001 das Haus meiner gerade verstorbenen Mutter betrat, kam es mir fremd und ungemein vertraut zugleich vor. In dem Haus habe ich seit 1944 gewohnt, die Bombenangriffe im Luftschutzkeller überlebt, die letzten Kriegstage durchgestanden, als die SSLeibstandarte „Adolf Hitler“ mit Granaten die russischen Panzer treffen wollte, die über den Dahlemer Weg in Richtung Kaiser-Wilhelm-Institute rollten, und zu kurz schoss, so dass die Granaten vor unserem Haus explodierten. In diesem Haus, das Teil eines Russenlagers wurde, habe ich die Russen nicht als Barbaren, sondern als Verantwortungsträger kennen gelernt, die meinen Bruder und mich ernährten und davor bewahrten, mit am Wegesrand liegenden SS-Ehrendolchen aufeinander loszuschlagen. Solange mein Vater noch lebte, hatte ich das Haus nur selten betreten. Ich wollte mit ihm keine tief schürfenden Gespräche mehr führen. Erst nach seinem Tod im Jahr 1993 besuchte ich wieder regelmäßig meine Mutter.

„Mit Stumpf und Stiel“

Ich freute mich darüber, dass in dem Garten jetzt ungestört die Gänseblümchen blühten. Mein Vater hatte seine freien Stunden dazu benutzt, mit dem Taschenmesser Gänseblümchen und Löwenzahn aus dem Boden zu hebeln und, sobald er meine Nähe bemerkte, vor sich hin zu murmeln: „So muss man mit den Kommunisten umgehen – mit Stumpf und Stiel ausrotten.“

Mein Vater war kein Nationalsozialist gewesen, sondern deutschnational. Er hatte sogar den Mut besessen, als Angehöriger des Stahlhelms aus der SA auszutreten, als der Stahlhelm in die SA überführt wurde. Die Nationalsozialisten waren für ihn braune Kommunisten. Das hinderte ihn nicht, in seinem Hass auf alle, die er für den Sturz der Monarchie verantwortlich machte oder die als spätere Machthaber nicht an den Glanz der Monarchie heranreichten, zu äußerst gewagten Vergleichen zu greifen.

Im Jahr 1976 schleuderte er mir in höchster Erregung entgegen: „Auch du gehörst zu jenen Versagern in der Geschichte wie jene Sozialdemokraten, die den Kommunisten Tür und Tor geöffnet haben und deswegen von den Nationalsozialisten zu Recht in den Konzentrationslagern umgebracht wurden.“ Ich verließ nicht nur den Raum, sondern das Haus, begleitet von meiner Mutter, die erregt, verwirrt und empört war und mich auf dem anschließenden Weg zu meiner Wohnung immer wieder mit den Worten zu beruhigen versuchte: „Diese verfluchte Politik, sie hat unser ganzes Leben vergiftet.“ Das war ein Schlüsselsatz.

Um zu begreifen, wie es zu diesem zugespitzten Vater-Sohn- Konflikt gekommen war, muss ich auf meine Schulzeit zurückblenden. Ich war zwölf Jahre alt, als in eines unserer Nachbarhäuser eine Familie mit drei Kindern zog. Es war eine Mischlingsfamilie, wie man damals sagte, mit einer hoch gewachsenen deutschen Mutter und einem kleineren malaiischen Vater. Die jüngste Tochter in dieser Familie wurde meine Spielgefährtin – bei den Ausflügen mit dem Fahrrad zu Feldern und Wäldern am Rande Berlins und zu den Badestellen an der Havel. Als wir beide in die Pubertät kamen, wurde sie meine erste Liebe. Danach änderte sich alles. Meine konservative Großmutter sprach plötzlich von Rassenschande. Mit einem Mal gefielen mir die vielen Judenwitze, die im Elternhaus die Runde machten, nicht mehr.

Was war das überhaupt für ein Schulklima in den fünfziger Jahren? Nach 1945 wurden wir von Kriegsheimkehrern, reaktivierten alten Lehrern aus der Weimarer Republik, Quereinsteigern aus anderen Berufen und manchem Mitläufer oder einstigen Nazi unterrichtet. Mein Klassenlehrer in der Volksschule konnte selbst noch im Jahr 1949 regelmäßig Schlagballkeulen auf den Rücken meiner Mitschüler zerschlagen. Kein Wort fiel in unserem Geschichtsunterricht über die Grausamkeiten des deutschen Rasse- und Lebensraumskriegs in Russland.

Erst vor dem Spiegel meiner Jugend und Schulzeit kann deutlich werden, was mir der Besuch der Freien Universität seit 1957 bedeutete. Ich war hungrig nach Maßstäben und Orientierung. Es war für mich wie der Eintritt in eine andere Welt. Ich begegnete Wissenschaftlern, die Gegner des Nationalsozialismus gewesen waren, die diese Universität in bewusster Abgrenzung zum Kommunismus, zum Nationalsozialismus und den Traditionen der Deutschnationalen gegründet hatten.

Mein Studium hatte ich so angelegt, dass ich die beiden dominierenden Ideologien des 20. Jahrhunderts, den Kommunismus und den Nationalsozialismus, verstehen wollte.

Als ich die Freie Universität 1962 verließ, war ich gegen die Verführung durch jegliche Ideologie gefeit und ein glühender Anhänger der Demokratie geworden. Für meine Tätigkeit als Journalist konnte ich mir keine andere Aufgabe vorstellen als die Darstellung von Fakten, Fakten, Fakten.

Ich habe nie verstanden, warum die 68er Generation ihren Bruch mit den Elternhäusern und deren nationalsozialistischer Vergangenheit durch eine Hinwendung zu einer neuen Ideologie vollzogen hat. Jeder Blick auf die Wirklichkeit östlich der Elbe musste allen Apologeten des Marxismus anschaulich vor Augen führen, wie eine gut gemeinte Idee zu totalitären Auswüchsen geführt hat.

In den von linken Studentengruppen herausgegebenen alternativen Vorlesungsverzeichnissen wurden die Ordinarien als Vertreter bürgerlicher und kapitalistischer Sichtweisen gebrandmarkt und an ihrer Stelle die Tutoren und Assistenten empfohlen, deren Lehrangebote dem Marxismus folgten. Am Ende der langen Kette von Irrtümern standen gelangweilte Studenten, die mehr oder minder gelungene studentische Referate über sich ergehen lassen mussten und das Abenteuer Wissenschaft nur noch selten erlebten. Zur Logik der politischen Fraktionsuniversität gehörte es, sich Verbündete in den Parteien zu suchen, so dass sich einzelne Universitätsvertreter oder sogar ganze Gruppen als verlängerter Arm der SPD, CDU, der Alternativen Liste oder SEW/DKP verstanden. Wer in der Gruppenuniversität Erfolg haben wollte, musste Verbündete unter den Assistenten und Studenten sowie nicht zuletzt bei den Dienstkräften finden. So sammelten die politisierten Professorengruppen ihre Verbündeten und schleppten bald ganze Seilschaften hinter sich her.

Die immer länger werdenden Studienzeiten und hohen Abbrecherquoten an der größten oder zweitgrößten deutschen Universität wurden in der Hochschulstatistik ebenso regelmäßig belegt wie die Traumnoten und die ungleiche Verteilung der Drittmittel. Es gab nach wie vor glänzende Leistungen in den Naturwissenschaften, gute Leistungen in der Medizin, aber Mängel in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Die Freie Universität blieb unter ihren Möglichkeiten. Die heutigen brutalen Sparauflagen haben auch ihre Ursache in dem damals entstandenen Unbehagen, aus dem längst ein Vorurteil geworden ist.

Nach der Wiedervereinigung begann eine andere Berliner Logik: der Aufbau Ost durch den Abbau West. Bevorzugtes Opfer wurde die FU. Wie die FU in den 90er Jahren wieder ihren Anschluss an die Höhe der Zeit gewann, ist unter diesen Voraussetzungen letztlich zu bewundern, wenn auch nicht zu leugnen ist, dass da ein Wechselspiel in Gang gesetzt worden war: Dem mörderischen Druck, der Einsparvorgabe von einer Milliarde Mark für alle Berliner Hochschulen, konnte niemand ausweichen. Ebenso galt es, der neuen Konkurrenz der Humboldt-Universität zu begegnen, die sich anschickte, den Auftrag der Politiker zu erfüllen, endlich in Berlin eine Eliteuniversität aufzubauen.

Doch nach wenigen Jahren lieferte die Freie Universität der Humboldt-Universität ein Kopf-an-Kopf-Rennen um den Spitzenplatz in Berlin. Das Ergebnis: Die Freie Universität liegt heute vor der Humboldt-Universität. Sie kommt auf elf Sonderforschungsbereiche, darunter inzwischen sogar zwei Sonderforschungsbereiche in dem schwierigen Feld der Geisteswissenschaften. Die Humboldt-Uni hat neun, die Technische Universität acht Sonderforschungsbereiche.

Auf Normalmaß stutzen

Die Freie Universität könnte mit Gelassenheit ihrer Zukunft entgegensehen. Aber dazu braucht diese Universität auch entsprechende Rahmenbedingungen. Das ist die Aufgabe der Politiker – und da liegt in Berlin das Problem. Typisch ist hierfür die Sicht des Finanzsenators, der die Hochschulen als Kostenfaktor auf bundesdeutsches Normalmaß stutzen will. Andere Länder belasten die Hochschulstatistik nicht mit den Beihilfen und Pensionslasten ihrer Beamten und kommen damit zu günstigeren Kosten als Berlin. Und welche deutsche Universität von Rang bildet nur für den Eigenbedarf aus?

Am Beispiel der Hochschulmedizin wird sich mit entscheiden, ob die Berliner Politiker noch eine Perspektive für die Wissenschaftsstadt Berlin haben oder ob sie sich nur von mehr oder weniger kurzfristigen Sparüberlegungen leiten lassen.

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false