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Gesundheit: Der doppelte Blick

Historiker uneins: Wie soll deutsch-deutsche Geschichte geschrieben werden?

Wer auf die deutsche Nachkriegsgeschichte blickt, sieht doppelt. Er erblickt zwei Hauptstädte, zwei Gesellschaftssysteme, zwei verschiedenartige Fernsehnachrichten am Abend und zwei unterschiedlich wertvolle Währungen. Beim genaueren Hinschauen verschwimmen die Doppelbilder dann. Sie gehen ineinander über und passen doch nicht ganz zusammen; sie haben einiges gemeinsam und sind dabei verschieden. Gibt es eine Sicht, welche die Vergangenheiten der DDR und der Bundesrepublik gleichermaßen erfasst? Ist die Zeit zum Schreiben einer integrierten Nachkriegsgeschichte reif?

Hans-Ulrich Wehler, Professor und Emeritus an der Universität Bielefeld, streitbare Referenzfigur der deutschen Geschichtswissenschaft, weist diesen Gedanken von sich. Bei einem Streitgespräch am Potsdamer Neuen Markt, zu dem das Zentrum für Zeithistorische Forschung geladen hatte, kündigte er an, er werde im fünften Band seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ eine „ganz strenge Kontrastgeschichte“ der Bundesrepublik und der DDR schreiben: Den Erfolg der westdeutschen Rationalität des Markts wolle er beschreiben, und im Gegensatz hierzu das Scheitern der ostdeutschen Rationalität des Plans. Mit seiner „Gesellschaftsgeschichte“ verfolgt Wehler, der mit seinem Modell der „Bielefelder Schule“ ab den 70er Jahren die deutsche Historiographie für Jahrzehnte prägte, eine Geschichtsschreibung sozialer Klassen und organisierter Gruppen. Indem etwa das Bürgertum aus der DDR vertrieben wurde, so eine seiner Thesen, sei dem Land auch die Innovationsbereitschaft verloren gegangen.

„Möchten wir denn überhaupt eine deutsch-nationale Gesellschaftsgeschichte der Nachkriegszeit schreiben?“, fragte sein Gegenüber Charles Maier, Professor an der Universität Harvard und mit einem Werk zum Untergang des Kommunismus ausgewiesener DDR-Spezialist. Schließlich sei eine strukturell fixierte Gesellschaftsgeschichte „ein normatives Projekt“. Maier repräsentiert demgegenüber eine universalhistorische Perspektive und arbeitet momentan an einer Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Ertragreich und innovativ erscheint ihm eine „Geschichte der Grauzonen“, die sich mit dem Verhältnis zwischen Öffentlichem und Privatem beschäftige. Sie könne beispielsweise überprüfen, wie die Gesellschaftsordnungen akzeptiert wurden, die aus Ost und West nach Deutschland importiert wurden.

Konrad Jarausch vom Zentrum für Zeithistorische Forschung warf ein, es gelte, Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten: Die deutsche Nachkriegsgeschichte beginne doch mit der Gemeinsamkeit eines hoch schwierigen Erbes der ersten Jahrhunderthälfte. Wehler entgegnete ihm, sobald er den deutsch-deutschen Gemeinsamkeiten der Nachkriegszeit nachgegangen sei, sei er auf Unterschiede gestoßen. Die lange Dauer zweier Diktaturen in Ostdeutschland habe dort „Provinzialismus und Nationalismus“ konserviert, während in der westlichen Demokratie eine postnationale Gesellschaft entstehen konnte.

Aus dem Fachpublikum kamen Vorschläge, auf welchen Feldern man nach Gemeinsamkeiten suchen könne: Hatten West- und Ostdeutschland nicht gleichermaßen mit den Folgen von Ölkrisen und mit steigenden Kosten des Wohlfahrtsstaats zu kämpfen? Wie haben West- und Ostdeutschland, die massenmedial verlinkt waren, die Amerikanisierung der Jugendkultur verarbeitet? Und wie ist mit der engen wirtschaftlichen Verflechtung der Bundesrepublik mit einer DDR umzugehen, die ihre Autonomie darin zunehmend verlor? Und, so war zu hören: Eine West-Ost-Kontrastgeschichte, wie sie Wehler nun anstrebe, sei doch bereits während der Zeit der deutschen Trennung geschrieben worden.

In der nächsten Veranstaltung der Reihe „Das geteilte Deutschland als Herausforderung der Geschichtsschreibung“ diskutieren Peter Graf Kielmansegg und Detlef Nakath (7. Oktober, 19Uhr, im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte am Potsdamer Neuen Markt).

Christian Domnitz

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